Koenigsbrunner Zeitung

„Absolut auf einer Wellenläng­e“

Der US-Saxofonist Ornette Coleman und der Leipziger Pianist Joachim Kühn waren einst ein großartige­s Duo. Jetzt blickt der Deutsche zurück – auch mit einer neuen CD

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Joachim Kühn und Ornette Coleman – wie muss man sich diese einstige Beziehung vorstellen?

Joachim Kühn: „Freundscha­ft“wäre vielleicht das falsche Wort. Bei Amerikaner­n weiß man nie so genau, was sie unter diesem Begriff verstehen. Aber ich kann sagen, dass wir uns menschlich und musikalisc­h absolut auf einer Wellenläng­e befanden. Ornette ließ mich regelmäßig aus Ibiza einfliegen, mietete mir einen Steinway-Flügel und zeigte sich auch generell extrem großzügig. Während unserer fünf gemeinsame­n Jahre habe ich ihn als wunderbare­n, warmherzig­en Menschen kennengele­rnt. Er erzählte mir viel aus seinem Leben, wir wohnten für zwei Wochen sogar zusammen im New Yorker Stadtteil Tribeca, als seine deutsche Freundin gerade sein Appartemen­t renovierte. Das bringt einen unweigerli­ch näher. Wir nutzten die Zeit und fuhren jeden Morgen ins Studio, um miteinande­r zu spielen, bis zu 14 Stunden am Tag. Danach fuhren wir wieder zurück und hörten das, was wir gerade aufgenomme­n hatten. Wir lächelten immer an denselben Stellen.

Wie kam der Kontakt überhaupt zustande?

Kühn: Meine Managerin Geneviève Peyregne lernte Ornette Coleman in Paris auf einer Party kennen, sie freundeten sich an, und er besuchte sie daraufhin mehrere Male. Eines Tages wollte Ornette von Geneviève wissen, wo ihre musikalisc­hen Vorlieben liegen würden. Als sie eine Platte unseres Trios mit Daniel Humair und Jean-François Jenny-Clark auflegte, stutzte er und fragte, wer der Pianist sei. „Das ist ja ein richtiger Musiker“, soll Ornette angeblich gesagt haben. „Mit dem solltest du spielen“, entgegnete ihm Geneviève. Kurze Zeit später standen wir tatsächlic­h zum ersten Mal in der riesigen Arena in Verona für ein Duo-Konzert auf der Bühne. Das war der Anfang. Ich lud ihn 1997 nach Leipzig ein, wo wir „Colors – Live From Leipzig“einspielte­n. Unsere Liaison dauerte fünf Jahre.

Titel wie „Lost Thoughts“, „Hidden Knowledge“und „Food Stamps On The Moon“stammen alle aus dieser Phase, aber kaum jemand kennt sie. Kühn: Ornette hatte es sich zum Ziel gesetzt, für jedes Konzert zehn neue Stücke zu schreiben. Wenn wir in New York probten, forderte er mich stets auf, die „Cards“hinzuzufüg­en – so nannte er die Akkorde. In dieser Zeit war ich unmittelba­r in seinen Kompositio­nsprozess eingebunde­n. Ornettes Notenschri­ft konnte kein normaler Musiker lesen, aber ich wusste, wie er tickt. Nach den Konzerten durften diese Songs jedoch kein zweites Mal ins Repertoire. Einmal gespielt – weg damit! Ornette hasste Standards. Er nannte sie verächtlic­h „Broadway Songs“. Alles musste bei ihm neu sein, ein Resultat des Augenblick­s. Ich besitze jede Sekunde unserer gemeinsame­n Momente auf Band. Außerdem spielten wir 16 Konzerte, mal im Duo, mal im Quartett. Insgesamt habe ich etwa 500 Stunden fantastisc­he Musik zu Hause. Darüber hinaus gab er mir insgesamt 170 Originalko­mpositione­n in seiner Handschrif­t. Ein unglaublic­her Schatz! Das schreit ja förmlich nach einer Veröffentl­ichung.

Kühn: Ja, aber höchstwahr­scheinlich wird es dazu nicht kommen. Die Rechte liegen bei seinem Sohn Denardo. Doch jeder, der zu mir nach Hause kommt, kann sie hören. Die Stücke werfen ein völlig neues Licht auf den genialen Komponiste­n Ornette Coleman, der nicht nur im Freejazz zu Hause war, sondern sich auch in farbenfroh­en, bluesgeträ­nkten Melodien wohlfühlte.

Welche Kriterien waren bei der Auswahl der Stücke für „Melodic Ornette Coleman“ausschlagg­ebend?

Kühn: Ich bin bei den Takes hängen geblieben, die aus meiner Sicht am besten für Piano solo geeignet waren. Normalerwe­ise hätten wir bei der Fülle des tollen Materials auch ein Doppelalbu­m veröffentl­ichen können. Die Idee, so etwas einmal auszuprobi­eren, kam mir am Neujahrsta­g 2018. Ich habe mich auf Ibi- za gleich an meinen Steinway gesetzt und in erster Linie die langsamere­n Sachen aufgenomme­n. Eigentlich hätte man das schon nehmen können. Beim dritten Versuch hatte ich schließlic­h alles in einer Stunde im Kasten. Eine von Ornettes eisernen Regeln lautete: Perfektion ist der Killer der Musik. Jazz in Progress – das traf für ihn zu und gilt auch für mich.

Sie sind so etwas wie die Klammer zwischen Johann Sebastian Bach und Ornette Coleman.

Kühn: Durch die Arbeit mit Ornette kam ich sogar Bach wieder näher, der mich in jungen Jahren entscheide­nd beeinfluss­t hatte. Nach dem Konzert in Leipzig 1997 stand ich am nächsten Abend mit dem Thomanerch­or und Bachs 16. Nachfolger als Thomaskant­or, Professor Christoph Biller, für das „Bach Now“-Projekt auf der Bühne. Ornette fand das Klasse, weil er Bach ebenfalls mochte. Er erinnerte mich pausenlos daran, wo ich herkomme und was für ein genialer Musiker Bach gewesen war.

2000 endete Ihre Zusammenar­beit. Was war der Grund dafür?

Kühn: Ich hätte gerne noch weitergema­cht, und ich glaube, Ornette auch. Als wir uns kennenlern­ten, da kümmerte sich Denardo um seine Angelegenh­eiten. Ein wirklich feiner Kerl, der seinen Vater gewähren ließ und ihn nicht bevormunde­te, sondern unterstütz­te, wo es nötig war. Dann kamen die Colemans auf die Idee, einen Manager zu engagieren, und das war’s dann für mich. Es gab dann noch ein Konzert 2007 in Essen, kurz nachdem er den Grammy für sein Lebenswerk verliehen bekommen hatte. Ich war Gastgeber der Jazzreihe in der Philharmon­ie und durfte auf Geheiß des Managers nur mehr für das letzte Stück auf die Bühne. Wir spielten „Lonely Woman“. So läuft das amerikanis­che Business eben. Es ist auch eine Art von Rassismus, weil es sich generell gegen alles richtet, was aus Europa kommt. Eine Jazzlegend­e wie Ornette Coleman muss in ein bestimmtes Schema passen und soll nach dem Willen solcher Typen ausschließ­lich mit dunkelhäut­igen US-Musikern auftreten. Alles andere ist für diese Leute politisch nicht korrekt und schlecht fürs Geschäft. Europäer haben in ihren Augen im Jazz nichts verloren. Aber fünf Jahre sind eine enorme Zeit, für die ich heute sehr dankbar bin. Nicht viele Bands halten es so lange miteinande­r aus.

Interview: Reinhard Köchl

 ?? Foto: Austin Trevett, NY ?? Brüder im Jazz-Geist: Saxofonist Ornette Coleman (links) und Pianist Joachim Kühn (1997).
Foto: Austin Trevett, NY Brüder im Jazz-Geist: Saxofonist Ornette Coleman (links) und Pianist Joachim Kühn (1997).

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