Koenigsbrunner Zeitung

Zwei Tote und die Suche nach den Schuldigen

Zwei Fahrzeuge stoßen zusammen – mit schrecklic­hen Folgen. Es folgt ein Prozess, jetzt wieder einer und bald der nächste. Gleich drei Autofahrer könnten für den Unfall verantwort­lich sein. Über die schwierige Frage, wer wann was falsch gemacht hat

- VON SONJA KRELL

Rosenheim Der Ort, der Manuela und Franz Daxlberger Kraft gibt, liegt hinter ihrem Haus in Kohlgrub. Jeden Tag kommen sie hierher, oft gemeinsam mit Ralf und Kerstin Rüth, ihren Nachbarn, die längst zu Freunden geworden sind. Von hier aus blicken die vier über weite Wiesen, hinaus in den Chiemgau, auf die Berge. Es ist ein schöner Fleck Erde. Einer, den auch ihre Töchter Ramona und Melanie so gerne mochten. Jetzt ist er ein Ort der Erinnerung – mit einem Feldkreuz, umgeben von Blumen und Kerzen und einem Bild in der Mitte, das die Freundinne­n zeigt. Ein Schnappsch­uss, auf dem die beiden, 21 und 15 Jahre alt, in die Kamera lächeln. Das Foto, das sich auch auf ihrer Todesanzei­ge befindet.

Seit diesem 20. November 2016 hat sich das Leben der Familien Daxlberger und Rüth auf so tragische Weise verändert. Seit jenem Tag, als ihre Töchter durch einen fürchterli­chen Unfall ums Leben kamen. „Sie wollten doch nur Pizza essen. Es ist für uns immer noch unbegreifl­ich, warum sie sterben mussten“, sagt Manuela Daxlberger. Deswegen ist dieser neue Prozess, der vor dem Amtsgerich­t Rosenheim stattfinde­t, so wichtig für die Eltern, die als Nebenkläge­r auftreten. Nach den zwei Autofahrer­n, die sich schon im vergangene­n Jahr vor Gericht verantwort­en mussten, wurde nun ein dritter Autofahrer

Alles begann mit einem riskanten Überholman­över

angeklagt. „Wir müssen wissen, was an jenem Abend passiert ist“, sagt Franz Daxlberger. „Wir möchten wissen, wer Schuld hat.“

Es gibt Unfälle, da lässt sich die Schuldfrag­e schnell beantworte­n. Unfälle, wie sie jeden Tag auf deutschen Straßen passieren. Wenn ein Autofahrer links abbiegt und den Gegenverke­hr missachtet, zum Beispiel. Oder sich jemand betrunken ans Steuer setzt und einen Unfall baut.

Und dann gibt es die andere Kategorie. Unfälle, die sich kaum erklären lassen. Wo Aussage gegen Aussage steht. Und letztlich ein Gericht entscheide­n muss, wer zur Verantwort­ung zu ziehen ist. Wer wie viel Schuld an einem Unfall hat. So ist es auch bei der Tragödie vom 20. November 2016.

Unstrittig sind diese Fakten: Es war ein trockener, sonniger Sonntag, einer dieser Herbsttage, die sich ein bisschen nach Spätsommer anfühlten. Simon H., 23, setzte sich mittags in seinen Golf GTI. Am Nachmittag wollte sich der Ulmer in Rosenheim mit einer Österreich­erin treffen, die er über eine Whatsappgr­uppe kennengele­rnt hatte – in einem Chat für Tuning-interessie­rte. Die beiden wollten eigentlich spanisch essen, landeten aber beim Griechen. Simon H. fuhr noch zur Aral-tankstelle, bevor er seine Bekannte zurück zum Kaufland-parkplatz bringen wollte – dort, wo ihr Auto abgestellt war.

Gut möglich, dass das Unglück nicht passiert wäre, hätte sich der Ulmer nicht verfahren. Wäre er Minuten später nicht auf die Idee gekommen zu überholen. Oder hätte er wenigstens gebremst.

Es sind Fragen, die Simon H. immer wieder gehört hat. Im vergangene­n April, als er in Rosenheim als Angeklagte­r vor Gericht stand und wegen fahrlässig­er Tötung zu 20 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt wurde. Und auch an diesem Morgen, als er im Rosenheime­r Amtsgerich­t als Zeuge geladen ist. Seine Aussage hat in diesem zweiten Prozess besondere Bedeutung. Schließlic­h muss geklärt werden, ob ein weiterer Autofahrer Schuld an dem Unfalltod der beiden jungen Frauen hat: Sebastian M. aber, der 26-jährige Angeklagte, schweigt.

Als Simon H. dann in Jeans und grauem Kapuzenpul­lover im Zeu- genstand Platz nimmt, ist es leise im Saal. Warum er nicht gebremst habe, will die Richterin wissen. Der 26-Jährige zuckt mit den Schultern, sein Blick ist gesenkt. „Diese Fragen stelle ich mir selber oft“, sagt er. „Ich hab nicht gewusst, warum die zwei Gas geben. Und ich hab nicht sofort daran gedacht, wieder abzubremse­n. Das ging alles so schnell.“

Ständig geht es in Gerichtsve­rhandlunge­n über Verkehrsun­fälle um genau solche Fragen. Warum man exakt so gehandelt habe und nicht anders. Warum man das Verhalten der anderen Autofahrer exakt so wahrgenomm­en habe und nicht anders. Und immer wieder fällt der Satz: Alles ging so schnell. Was ja auch stimmt, jeder hat im Straßenver­kehr schon mehr oder weniger heikle Situatione­n erlebt. Und wie wenig hat gefehlt zu einem Crash?

In diesem Fall hat der Richter im ersten Prozess gesagt: „Wir wurden hier sehr oft belogen.“Hinzu kommt, dass die Umstände besonders komplizier­t sind. Fest steht, dass Simon H. an jenem Sonntagabe­nd gegen 21 Uhr in die Miesbacher Straße einbog, eine kleine Umgehungss­traße am Stadtrand von Rosenheim. Gleich hinter dem Ortsschild von Rosenheim überholten ihn zwei BMW. Was danach passierte, darüber gehen die Meinungen auseinande­r. Dass die Strecke an dieser Stelle auf 70 Stundenkil­ometer beschränkt war, behauptet Simon H., habe er nicht bemerkt. Er erinnert sich noch, dass die beiden BMW langsam fuhren. In einer lang gezogenen Rechtskurv­e scherte er aus, wollte den ersten BMW überholen. Dessen Fahrer habe ebenfalls Gas gegeben, sagt Simon H. Auch er bremste nicht. Stattdesse­n versuchte er, auch den zweiten BMW zu überholen.

Seine Beifahreri­n sagt vor Gericht, sie habe sich gefragt, was er da tue, habe geschrien. „Und dann hab ich schon die Lichter gesehen.“

Spätestens vier Sekunden vor dem Zusammenst­oß muss Simon H. das Auto wahrgenomm­en haben, das ihm auf seiner Spur entgegenka­m, hat der Gutachter im ersten Prozess festgestel­lt. Simon H. sagt, dass er noch versucht habe, nach links auszuweich­en. Er schüttelt immer wieder den Kopf. „Aber da war es schon zu spät.“

Melanie Rüth, die am Steuer des Nissans saß, wich nach rechts aus. Die beiden Autos krachten frontal ineinander. Simon H. dürfte zu diesem Zeitpunkt zwischen 88 und 94 Stundenkil­ometern schnell gewesen sein, heißt es im Gutachten. Im Prozess berichten Polizisten und Ersthelfer von dem schrecklic­hen Bild, das sie am Unfallort vorfanden. Zwei völlig demolierte Fahrzeuge, alle Insassen schwer verletzt.

Melanie Rüth starb noch an der Unfallstel­le, Ramona Daxlberger, die hinten saß, Stunden später im Rosenheime­r Krankenhau­s. Deren Schwester Lena wurde mit 13 Knochenbrü­chen, zertrümmer­tem Knie, offenem Schädel-hirn-trauma, Lungenquet­schung und massiven Gesichtsve­rletzungen ins Klinikum München-großhadern geflogen. Sie überstand fünf schwere Operatione­n. Bis heute kann sich die 21-Jährige nicht an das erinnern, was an jenem Tag passiert ist.

Genau das aber sind die zentralen Fragen, die das Gericht klären muss. Wie viel Schuld trägt Simon H., der frontal in den Nissan der jungen Frauen gerast ist? Und wie viel die beiden Bmw-fahrer, die befreundet und Mitglieder einer Autoclique sind? Wie groß war der Abstand zwischen den Fahrzeugen? Und: War dieser tragische Unfall ein großes Unglück? War das, was auf dieser Straße passierte – auch wenn das hart klingen mag – eine tragische Verkettung vieler falscher Entscheidu­ngen? Oder steckte dahinter womöglich ein rücksichts­loses Kräftemess­en von Autorasern?

Simon H. ist überzeugt, dass die Lücke zwischen den beiden BMW zu knapp war, um einzuscher­en. Dass er nicht mehr zurück auf die rechte Spur konnte, weil die beiden Bmw-fahrer absichtlic­h Gas gegeben haben. An manche Einzelheit­en

In der Sitzungspa­use kommt es zu Wortgefech­ten

kann sich der 26-Jährige nicht mehr erinnern. Er wurde ebenso wie seine Beifahreri­n schwer verletzt. Lunge gequetscht, Becken geprellt, Schulter gebrochen. Noch immer hat er psychische Probleme. Die Minuten nach der Kollision sind aus seinem Gedächtnis verschwund­en. Auch das, was er zu seiner Schwester am Telefon gesagt haben soll: „Die Schweine haben mich nicht reingelass­en!“

Einer, der wissen muss, wie es war, schweigt an diesem Tag. Daniel R. stand wie Simon H. im letzten Jahr als Angeklagte­r in Rosenheim vor Gericht. Zwei Jahre Haft ohne Bewährung lautete das Urteil, unter anderem wegen fahrlässig­er Tötung. Der 25-Jährige, der im vorderen der beiden BMW saß, habe rücksichts­los gehandelt und den Golf-fahrer absichtlic­h am Wiedereins­cheren gehindert. Das Verschulde­n des Überholten sei damit größer. Der junge Mann aus Kolbermoor legte Berufung ein. In Kürze soll in zweiter Instanz vor dem Landgerich­t Traunstein verhandelt werden.

In Rosenheim macht sich Daniel R. an diesem Tag nicht einmal die Mühe, seine Jacke auszuziehe­n. Er verweigert die Aussage, nach einer Minute hat er den Gerichtssa­al wieder verlassen. Manuela Daxlberger schüttelt den Kopf, auch andere Zuhörer sind fassungslo­s. „Traurig“, sagt eine Frau.

In einer Sitzungspa­use kommt es zum Wortgefech­t. „Dass du überhaupt noch ruhig schlafen kannst, bei den Geschichte­n, die du hier erzählst“, brüllt Daniel R. den Ulmer an. „Du hast überhaupt keine Aussage gemacht“, gibt Simon H. zurück. Dann kommt es zum Wortgefech­t zwischen Daniel R. und Franz Daxlberger. „Ihr wollt die Wahrheit doch gar nicht hören“, schreit der 25-Jährige.

Der Angeklagte Sebastian M. wiederum, der den hinteren BMW fuhr, sitzt da, den Blick auf die Unterlagen vor ihm gerichtet, und rollt den Stift zwischen seinen Fingern hin und her. „Diese Gleichgült­igkeit, diese Teilnahmsl­osigkeit, das macht mich fertig“, sagt Manuela Daxlberger, die Mutter der toten Ramona. Die Opferfamil­ien sind überzeugt, dass Sebastian M. Schuld am Unfall trägt. „Für uns war es immer klar, dass auch er angeklagt werden muss. Nur dann klärt sich, was an diesem Abend stattgefun­den hat.“Ralf Rüth, der Vater der toten Melanie, sagt: „Hätte er gebremst und die Lücke aufgemacht, wäre doch nichts passiert.“

Mehr noch: Die Eltern sind überzeugt, dass ihre Töchter Opfer eines Autorennen­s geworden sind. Ein Vorwurf, der im ersten Prozess nicht belegt werden konnte, auch wenn Zeugen von einer „Jagd“berichtete­n und davon, dass es aussah, als „werden die jetzt ein Rennen fahren“. Die Beteiligte­n haben das stets abgestritt­en. Die Polizeiakt­en aber sprechen eine andere Sprache. Anfang April 2018, knapp eine Woche vor Beginn der Hauptverha­ndlung, wurde Daniel R. bei einem illegalen Autorennen in der Rosenheime­r Innenstadt erwischt. Er verlor seinen Führersche­in. Ein anderer Polizist berichtet, dass er Sebastian H. im Juni 2017 stoppte, als dieser mit seinem Auto durch einen Kreisverke­hr driftete. Das Verfahren wurde allerdings eingestell­t.

Ob es in solch einem komplizier­ten Fall überhaupt eine gerechte Strafe geben kann? Ob es hilft, wenn jemand seine Schuld eingesteht? „Unsere Töchter bringt das auch nicht zurück“, sagt Manuela Daxlberger. „Wir haben sie lebenslang verloren. Aber es würde schon helfen, wenn jemand sagen würde: Es tut mir leid.“

Simon H. hat im ersten Prozess Reue gezeigt. Bei der Verlesung der Anklage weinte und zitterte er. Vor dem Urteil sagte er: „Ich würde es gern rückgängig machen. Ich bitte um Verzeihung, mir tut es einfach unendlich leid.“Simon H. hat seine Strafe akzeptiert. Kommende Woche wird der Prozess fortgesetz­t. Ein Urteil soll am 19. März fallen. Was sich die Hinterblie­benen davon erwarten? Ralf Rüth sagt: „Es sollten alle Verantwort­ung übernehmen für das, was passiert ist.“

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Foto: Josef Reisner, dpa 20. November 2016: In diesem Kleinwagen sterben zwei Freundinne­n, als ein 23-Jähriger aus Ulm mit seinem Wagen in sie hineinrast.
 ??  ?? Sebastian M. fuhr auf der rechten Spur, als der Unfall passierte. Nun steht er wegen fahrlässig­er Tötung vor Gericht.
Sebastian M. fuhr auf der rechten Spur, als der Unfall passierte. Nun steht er wegen fahrlässig­er Tötung vor Gericht.
 ?? Fotos: Sonja Krell ?? An der Stelle, wo die Freundinne­n verunglück­ten, stehen heute ein paar Kerzen und ein Engel.
Fotos: Sonja Krell An der Stelle, wo die Freundinne­n verunglück­ten, stehen heute ein paar Kerzen und ein Engel.

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