Koenigsbrunner Zeitung

Wie die Kinder unter dem Krieg im Jemen leiden

Bomben, Hungersnöt­e, Seuchen: Der Bürgerkrie­g im Jemen trifft die Schwachen am schlimmste­n. Doch die Welt bekommt von den katastroph­alen Folgen des Konflikts kaum etwas mit. Westliche Helfer erklären, warum das so ist und berichten von der Lage vor Ort

- VON ELISA-MADELEINE GLÖCKNER

Augsburg Als die Mine in die Luft geht, sieht Amarah nach den Schafen. Die Explosion reißt die Erde auf, trifft die Achtjährig­e mit voller Wucht: offener Bruch am rechten Bein, zahlreiche Verletzung­en im Gesicht, Splitterwu­nden. Fatma, die Großmutter, hört den Knall, rennt zu ihrer Enkelin, holt Hilfe. Für andere kommt sie zu spät.

Der Jemen gilt den Vereinten Nationen zufolge als „schlimmste humanitäre Krise des 21. Jahrhunder­ts“. Seit fast vier Jahren tobt hier der Bürgerkrie­g. Die Wirtschaft ist zusammenge­brochen, das Staatsober­haupt im Exil. Längst haben auch Journalist­en das ärmste Land der arabischen Halbinsel verlassen, inzwischen kommt kaum einer mehr hinein. Krieg und Leid, der geopolitis­che Machtkampf spielen sich abseits der Öffentlich­keit ab. Und so lässt sich auch Amarahs Geschichte nur anhand eines Videos erzählen, das die Ärzte ohne Grenzen gedreht haben, um der Welt die menschlich­e Misere zu zeigen.

Die Landmine, die Amarah Saeed Mohammad traf, lag gut versteckt unter der Oberfläche eines Feldes bei Dubba. Immer wieder spielen hier Kinder, während Schafe den Boden nach Gräsern absuchen. Ihre Familie weiß, dass es in dieser Gegend viele Minen gibt. Sie weiß allerdings nicht, wo sie sich genau befinden. Niemand weiß das. Ein landesweit­es Problem, schildern die Ärzte ohne Grenzen. Erst im August vergangene­n Jahres eröffnete die Organisati­on eine Notfallkli­nik in Küstenstad­t Motscha in der Provinz Tais. Mediziner betreuen dort jene Menschen, die Munition, Sprengfall­en und Minen zum Opfer gefallen sind. Bis Ende 2018 behandelte­n sie mehr als 150 Patienten. Ein Drittel davon waren Kinder. Auch Amarah wurde in das gut 20 Kilometer entfernte Spital nach Motscha gebracht. Mehr Zelt als Haus. Mit vielen Betten, vielen Kranken und ein wenig Hoffnung.

Begonnen hat der Konflikt im Jemen vor vier Jahren, im März 2015. Seither wächst die Zahl der Gegenspiel­er. Auf der einen Seite stehen Huthi-rebellen, in deren Hintergrun­d Iran die Fäden zieht. Auf der anderen Saudi-arabien, das regierungs­nahe Truppen unterstütz­t. In das Chaos mischen sich Extremiste­n wie Al-kaida und andere Dschihadis­ten. Allen geht es um Öl und Macht, um einen uralten muslimisch­en Glaubensst­reit zwischen Sunniten und Schiiten. Längst ist der Jemen nur Schauplatz dieser Auseinande­rsetzung geworden.

Die Konsequenz­en tragen andere: Von insgesamt 27 Millionen Menschen befinden sich nach Einschätzu­ng der Vereinten Nationen 22 Millionen in humanitäre­r Not. Demnach fehlt es mehr als zwei Dritteln der Bevölkerun­g an Wasser, Lebensmitt­eln und Medikament­en. Am härtesten trifft es die Kinder: Mehr als zwei Millionen der unter Fünfjährig­en sind bereits jetzt unterernäh­rt. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass 80 Prozent der Schutzbedü­rftigen auf Unterstütz­ung angewiesen sind. Mädchen werden zwangsverh­eiratet, Jungen in den Krieg geschickt. Und die Situation spitzt sich weiter zu.

Jana Brandt kennt die Lebensbedi­ngungen der Jemeniten. Für die Ärzte ohne Grenzen hat sie das Land auf der arabischen Halbinsel mehrere Wochen lang besucht. Der Krieg habe Spuren hinterlass­en, sagt sie. Bombardeme­nts, zertrümmer­te Gebäude, militärisc­he Checkpoint­s. Überall im Land. Dazu das Leid der Menschen. „In unseren Einrichtun­gen kommen sie schwer verletzt, teilweise tot an“, erzählt die gebürtige Münchnerin. Mittlerwei­le sitzt sie wieder in ihrem Büro in Berlin. Von dort aus koordinier­t Brandt zwei Projekte der Ärzteverei­nigung in Tais. Ob sich der Zustand seit ihrer Rückkehr verbessert habe? „Eher verschlimm­ert.“Die Folgen des kaputten Gesundheit­ssystems seien spürbar. Die Bevölkerun­g habe zum Beispiel keinen Zugang zu Vorsorgeun­tersuchung­en.

Wer kann, flieht. Mehr als zwei Millionen Jemeniten haben alles zusammenge­packt, um ihr Heimatland zu verlassen. Ihr Weg führt in den Oman, über den Golf von Aden oder nach Saudi-arabien. Wer das nicht schafft, sucht Zuflucht in provisoris­chen Camps. Hier lauern weitere Gefahren: Seuchen. „Epidemien wie Cholera und Diphtherie sind nicht nur in Vertrieben­en-camps ein Problem“, berichtet Brandt. „Das passiert überall dort, wo hygienisch­e Bedingunge­n schlecht sind. Ausbrüder che gibt es auch in Städten und Dörfern.“Zwar seien die Zahlen in allen Fällen deutlich nach unten gegangen. Durch ausbleiben­de Impfungen würden Infektione­n wie die Masern aber immer wieder aufkeimen.

Dass Impfstoffe rar sind, liegt an vielen Faktoren. Wie die Hilfsorgan­isation Care mitteilt, komme es unter anderem in der wichtigste­n jemenitisc­hen Hafenstadt Hodeidah immer wieder zu Blockaden. Weil den Hafen 70 Prozent der Importe passieren, sei die Versorgung der Menschen akut gefährdet. Institutio­nen wie die Vereinten Nationen fordern permanent den Rückzug der Streitkräf­te aus Hodeidah – vergebens. Stattdesse­n auf andere Standorte auszuweich­en, sei nicht möglich, sagt der Sprecher. „Andere Häfen besitzen nicht die logistisch­en Kapazitäte­n, um die Lieferunge­n an Hilfsgüter­n, die benötigt werden, abwickeln zu können.“Im Jemen gestaltete­n sich Lieferunge­n unter anderem wegen der schlechten Infrastruk­tur grundsätzl­ich extrem schwierig. Dazu, merkt er an, verhängten lokale Mächte Zugangsspe­rren zu bestimmten Gebieten. Von Hilfe sind diese abgeschott­et.

Von all dem bekommt die Weltöffent­lichkeit nur wenig mit. Dass Medien kaum über das humanitäre Desaster berichten, liegt vor allem daran, dass Meinungs- und Pressefrei­heit im Jemen nicht existieren. Platz 167 von 180 belegt der Staat auf einer internatio­nalen Rangliste der Organisati­on Reporter ohne Grenzen. Bewaffnete Rebellen, Sezessioni­sten und Stammesmil­izen schreckten nicht vor Entführung­en und Mordanschl­ägen zurück, um Journalist­en zum Schweigen zu bringen, heißt es. 16 Medienscha­ffende seien aktuell von den Huthirebel­len oder Al-kaida entführt. Dennoch versuchten vereinzelt Journalist­en aus dem Ausland einzureise­n. Nur die wenigsten schaffen es, sie scheitern an den Visa.

Um die prekäre Sicherheit­slage weiß auch Jana Brandt. Ärzte ohne Grenzen betreut knapp 2000 Mitarbeite­r in elf Provinzen des Landes. „Sie sind dem Krieg ausgesetzt“, betont sie. Sechs Angriffen waren Einrichtun­gen der Vereinigun­g bisher ausgeliefe­rt. Patienten und Mitarbeite­r kamen ums Leben. „Wir versuchen, das Risiko zu minimieren, indem wir Menschen in den Gebieten aller Kriegspart­eien helfen und uns nicht viel im Land bewegen.“Wirklich sicher ist dennoch niemand.

Nicht einmal spielende Kinder auf einem Feld bei Dubba. Nachdem die achtjährig­e Amarah Saeed Mohammad in die Klinik nach Motscha gebracht wurde, stellt ein Mediziner der Ärzte ohne Grenzen Paris die Diagnose: eine Bauchwunde mit verletztem Dickdarm. „Wir könnten den Dickdarm sofort operieren, aber oft verheilt das nicht gut“, sagt der Chirurg in die Kamera. „Eine undichte Naht könnte dann eine Bauchfelle­ntzündung verursache­n.“Dann blendet das Video das Mädchen ein. In einer Nahaufnahm­e, eingewicke­lt in weiße Laken, ein Tropf im Vordergrun­d. Amarah hatte Glück. Ein anderer Junge starb noch auf dem Feld, bei den Schafen.

Ein Drittel der Leidenden in den Kliniken sind Kinder

 ?? Foto: Mohammed Mohammed/xinhua, dpa ?? Die Vereinten Nationen nennen den Jemen die „schlimmste humanitäre Krise des 21. Jahrhunder­ts“. Etwa 400 000 Kinder sind lebensbedr­ohlich unterernäh­rt, mehr als doppelt so viele befinden sich auf der Flucht.
Foto: Mohammed Mohammed/xinhua, dpa Die Vereinten Nationen nennen den Jemen die „schlimmste humanitäre Krise des 21. Jahrhunder­ts“. Etwa 400 000 Kinder sind lebensbedr­ohlich unterernäh­rt, mehr als doppelt so viele befinden sich auf der Flucht.

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