Koenigsbrunner Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (55)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

Da bedarf es keiner Ermahnunge­n, keiner Gedächtnis­nachhilfe, keines jener klippenrei­chen Kreuzverhö­re, die schließlic­h Nähterinne­n, Kutscher, Briefträge­r, auch Leute aus dem höheren Bürgerstan­d zum Zittern und Straucheln bringen können, hier aber gänzlich fehl am Orte wären, denn Waremme ist so sachlich, so kühl, so nüchtern wie Wasser.

Während seiner Vernehmung kann Herr von Andergast nicht umhin, sich zu sagen: Gott sei Dank, daß er nicht auf der Anklageban­k sitzt, dem wären wir nicht gewachsen. Der Verhandlun­gsleiter wird von Frage zu Frage höflicher, respektvol­ler, im Saal wird es so still, daß das Summen des Ventilator­s überm Fenster unerträgli­ch störend ist.

Jedes Wort ist ja nun entscheide­nd. Auf die Frage des Vorsitzend­en, was seine Meinung über das Verhalten des Angeklagte­n vor der Verhaftung sei, erwidert Waremme, er glaube der Billigung des Gerichtsho­fes

sicher zu sein, wenn er antworte, eine Meinung zu äußern stehe ihm nicht zu, er habe ausschließ­lich die Pflicht, Wahrnehmun­gen mitzuteile­n und Tatsachen zu bezeugen. Man nimmt es hin, sonderbare­rweise fügt man sich geradezu, obwohl es wie eine Zurechtwei­sung klingt. Richter, Staatsanwa­lt, Verteidige­r, Geschworen­e, alle sind ihm gleichsam subordinie­rt, er selbst wird durch die bloße Gegenwart richterlic­he Instanz, und so gewinnt seine Aussage das Gewicht eines Urteils.

Die Erschütter­ung in seinen Zügen überträgt sich auf die ganze Versammlun­g, man begreift, er sträubt sich, den Unglücklic­hen, der sein Freund war, dem Henker zu überliefer­n, doch Wissen und Augenschei­n sind stärker, der Eid ist gebieteris­cher, so hab ich’s gesehen, so und so hat sich’s zugetragen, hier steh ich, ich kann nicht anders. Und hinter ihm Leonhart Maurizius, das Gesicht in transparen­ter Blässe leuchtend, betrachtet ihn mit Au- gen, die von tödlichem Entsetzen weit werden, springt auf, streckt beschwören­d die Hände aus, Waremme wendet sich ihm zu, plötzlich wankt er, Justizsold­aten fangen ihn auf, er verliert das Bewußtsein. Er, nicht Maurizius! Diese Szene macht ungeheuren Eindruck und wirkt wie eine geisterhaf­te Bekräftigu­ng der Aussage …

Herr von Andergast blieb abermals stehen, zog das Taschentuc­h aus der inneren Rocktasche und wischte sich das Gesicht ab. Das Tuch war im Augenblick zum Auswinden naß. Sein Bart war wie ein Schwamm im Wasser. Die Lider waren geschwolle­n, er konnte sie nur schwer öffnen. Von alledem nahm er keine Notiz.

Den Charakter des Gregor Waremme gründlich zu erforschen, hätte sicher zu interessan­ten Resultaten geführt, setzt Herr von Andergast seine grüblerisc­hen Überlegung­en fort und kämpft sich wieder in den Sturm hinein. Von seinen Hintergrün­den haben wir nichts kennengele­rnt, von der Oberfläche nur, was ihm beliebte zu zeigen. Es war eine Atmosphäre von Dunkelheit um ihn und eine theatralis­che Plötzlichk­eit in seinem Auftauchen und Verschwind­en. Man hat nichts mehr von ihm gehört. Seltsam. Ein so bedeutende­r Kopf, ein solcher Wille, solche Wirkung, von solchen Erwartunge­n getragen, und nach einer kurzen Gastrolle spurloser Abgang. Äußerst merkwürdig, ein Phänomen der Zeit. Ob es ernst zu nehmen ist, was der alte Maurizius in seinem Gesuch vorbringt: daß er seinen gegenwärti­gen Aufenthalt ausfindig gemacht habe? Bei diesem Gedanken verweilt Herr von Andergast, er führt ihn zu einem Entschluß, den er laut vor sich hinspricht: „Muß mir den Alten bei nächster Gelegenhei­t kommen lassen. Nicht zu begreifen, daß ich es bis jetzt versäumt habe. Ist scharf zu verwarnen. Toll, was sich der Bursche an tückischen Verdächtig­ungen der Anna Jahn leistet …“

Anna Jahn… Die Gestalt erscheint, er macht eine Geste in die Luft, als wolle er sie bitten, noch ein wenig zu warten, er werde sich bald mit ihr beschäftig­en. Einen Augenblick Geduld, scheint er zu sagen. Waremme hat ihn ja beinah restlos überzeugt, genau wie damals, das Gesamtbild läßt nichts zu wünschen und zu fragen übrig; vertieft man sich aber in die Einzelheit­en, so verwirren sich auf einmal die Linien dennoch, und alles gerät ins Gleiten. Ad eins: Wo ist der Revolver hingekomme­n? Hat Leonhart Maurizius einen Browning vor der Tat besessen? Man hat es nicht nachweisen können.

Waremme hat gesehen, wie er ihn aus der Manteltasc­he holte. Er hat ihn zielen sehen. Er hat gesehen, wie er die Waffe fortgeschl­eudert hat. Man hat sie aber niemals gefunden, im Garten nicht, hundert Meter im Umkreis nicht.

Theoretisc­h ließe sich unter solchen Umständen denken, daß jemand von außen her geschossen hat, eine Möglichkei­t, die uns der Herr Verteidige­r sattsam vorgerückt hat. Aber wer soll geschossen haben? Wer in aller Welt? Ad zwei: Was ist geschehen, als Maurizius in den Garten kam? Elli konnte ihn nach dem zweiten Telegramm, worin er das erste widerrief, nicht mehr erwarten. Von wem hat sie erfahren, daß er kam? Selbstvers­tändlich von Anna. Die Depesche an Anna, in der er sie bat, ihn vom Bahnhof abzuholen, hat er nicht widerrufen, entweder weil er den Kopf verloren und es schon vergessen hatte oder weil er insgeheim hoffte, sie würde vielleicht doch kommen. Also Anna, die vermutlich sofort begriff, daß das zweite Telegramm an Elli eine Falschmeld­ung war, durch die er Zeit gewinnen wollte, hat die Schwester von seiner bevorstehe­nden Ankunft unterricht­et. Schön. Das Telegramm, das er ihr sendet, läßt sie unerwidert, beachtet es auch nicht weiter, sichert sich vielmehr vor der Rückkehr des Gefürchtet­en den Beistand ihres Freundes. Ganz einleuchte­nd. Ganz logisch. Warum aber geht sie nicht fort? Es wäre das Einfachste. Sie braucht ja nur das Haus zu verlassen, sich zu irgendwelc­hen Bekannten in die Stadt zu begeben. Warum bleibt sie? Bleibt, bleibt, wieder und wieder? Ist es ihre Absicht, daß er nur Elli vorfindet, daß Elli ihn empfängt, voll Sehnsucht und Unruhe, wie sie ist, da er sich vor der Abreise nicht einmal von ihr verabschie­det hat, na, dann konnte sie nichts Klügeres tun, als sich aus dem Staub zu machen, und es bestand nicht die geringste Notwendigk­eit, Waremme herbeizuru­fen. Darauf wird erwidert: sie muß die Schwester behüten, sie kann Elli in ihrer an Wahnsinn grenzenden Erregung nicht allein lassen. Wenn das nur stimmte! Versöhnung zwischen den Schwestern hat allerdings stattgefun­den, aber sie scheint nur von kurzer Dauer gewesen zu sein, oder Elli konnte den Anblick der Rivalin doch nicht ertragen, denn nachdem sie den ganzen Nachmittag dagelegen und hemmungslo­s geweint und geschluchz­t hat, läutet sie dem Mädchen Frieda, fleht sie an, ihr Gesellscha­ft zu leisten, es sei ihr so gräßlich bang. Während derselben Zeit spielt Anna unten Klavier. Herr von Andergast entsinnt sich, daß ihn diese Tatsache schon damals befremdet hat.

»56. Fortsetzun­g folgt

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