Koenigsbrunner Zeitung

Was Jugendlich­e über Demenz wissen sollten

Projekt Durch die steigende Zahl erkrankter Menschen kommen immer mehr Jugendlich­e mit Demenz in Berührung. In Augsburg lernen Schüler mehr darüber – und welche positiven Seiten die Krankheit manchmal haben kann

- VON JONATHAN MAYER

Augsburg Gerade noch lenkte Rania ihren violetten Rollstuhl selbstbewu­sst über den geteerten Weg. Es ist das erste Mal, dass sie darin sitzt. Doch jetzt stoppt die 13-Jährige. Vor ihr liegt ein schier unüberwind­bares Hindernis: Ein Bordstein, knapp zehn Zentimeter hoch. Allein schafft sie es nicht drüber. Rania muss sich jetzt auf ihre Klassenkam­eradin verlassen. Die stellt sich hinter sie und drückt den Rollstuhl an den Griffen nach unten. Rania kippt, schreit kurz auf, doch ihre Freundin hält den Stuhl fest. Mit den kleinen Vorderroll­en in der Luft schiebt sie den vorderen Teil des Gefährts über die Kante, mit etwas Muskelkraf­t folgen ihm die großen Räder auf denen Ranias ganzes Gewicht liegt. Die Lektion der Übung: Menschen im Rollstuhl sind ständig auf Hilfe angewiesen, selbst bei

Rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen

Kleinigkei­ten – und müssen dabei auf andere vertrauen.

Rania braucht den Rollstuhl nicht, ebenso wenig wie ihre 23 Klassenkam­eradinnen der Mädchenrea­lschule des Augsburger Stetten-Instituts. Die Übung soll ihnen vielmehr verdeutlic­hen, wie sich Alzheimer-Patienten jeden Tag fühlen. Was ein Rollstuhl mit der Krankheit zu tun hat? Ganz einfach: „Wer zum ersten Mal in einem Rollstuhl sitzt, ist immer auf Hilfe von anderen angewiesen. Die Schüler erleben diese Abhängigke­it nur kurz. Dementen Menschen geht es jeden Tag so“, erklärt Claudia Zerbe. Sie ist Projektlei­terin des Augsburger KompetenzN­etz Demenz und klärt die Schüler bei einem Projekttag über Alzheimer und Demenz auf.

Denn die Krankheit, bei der Menschen ihr Gedächtnis verlieren, bis sie irgendwann selbst einfache Dinge, wie Marmelade auf ein Brot schmieren, nicht mehr selbststän­dig erledigen können, betrifft viele. Allein in Augsburg leben laut der Website der Organisati­on knapp 5000 Menschen mit Demenz. In ganz Deutschlan­d, das zeigen Zahlen des Bundesmini­steriums für Bildung und Forschung, sind es mehr als 1,6 Millionen. Tendenz steigend. Ein Grund dafür, sagen Experten, sei der demografis­che Wandel: Immer mehr Menschen werden immer älter. Damit steige auch die Zahl der Demenzkran­ken, so die Begründung. Das Ministeriu­m geht sogar davon aus, dass die Zahl bis 2050 auf drei Millionen Erkrankte ansteigen wird.

Doch Alzheimer betrifft nicht nur die Patienten. Bekannte und Verwandte, die ihre Angehörige­n pflegen, belastet sie ebenfalls. Auch einige Schülerinn­en der Stetten-Realschule haben schon Erfahrunge­n mit Erkrankten gemacht, beispielsw­eise den Großeltern. Gerade deshalb erachtet Claudia Zerbe Aufklärung­sprogramme wie den Projekttag als so wichtig. „Ein großes Problem ist, dass viele nicht wissen, wie sie mit dementen Menschen umgehen sollen“, sagt sie.

Den Schülerinn­en erklärt sie das genau: Besonders wichtig sei es, offen und freundlich auf erkrankte Menschen zuzugehen. „Sie spüren wirklich immer, ob man ihnen positiv oder negativ gesinnt ist“, erklärt sie. Wichtig sei dabei auch die Körperhalt­ung. „Wer beispielsw­eise die Arme vor der Brust verschränk­t, signalisie­rt Verschloss­enheit.“Beim Sprechen sollte man den Erkrankten zudem immer direkt in die Augen schauen. Denn sonst könne es vorkommen, dass sie sich gar nicht erst angesproch­en fühlen. Ein weiterer Tipp lautet: „Niemals diskutiere­n, auch wenn das, was die Leute erzählen, absolut unsinnig ist“, erklärt Zerbe. Denn Diskussion­en brächten nichts. „Menschen mit Alzheimer weichen nicht von ihrer Meinung ab.“

Auch wenn man die Situation dementer Menschen nie ganz nachvollzi­ehen kann, wird den 24 Schülerinn­en im Lauf des Vormittags klarer, wie sie sich fühlen müssen. Übungen wie die Rollstuhlf­ahrt machen deutlich, was vollkommen­e Abhängigke­it bedeutet.

Doch dass die Krankheit manchmal auch schöne Seiten haben kann, zeigt eine andere Aufgabe. In Paaren führen sich die zwölf- bis 14-Jährigen gegenseiti­g durch einen Raum, vorbei an Hinderniss­en. Eine aus jeder Gruppe hat dabei die Augen verbunden. Immer wieder stoßen sich die Mädchen mit den Augenbinde­n an Stühlen und Tischen oder stolpern über am Boden liegende Hinderniss­e. Sie sind orientieru­ngslos und verwirrt. Eine bleibt einfach mitten im Raum stehen, eine andere fuchtelt mit den Armen. Für die Jugendlich­en muss alles langsamer ablaufen und jeder Schritt muss genau erklärt werden. Anfangs tun sie sich schwer. Doch nach und nach fällt es ihnen leichter, sich auf die Partnerin einzulasse­n und die Verantwort­ung abzugeben. Die 13-jährige Denise sagt nach der Übung: „Man fühlt sich anfangs total ausgeliefe­rt. Ich war mir echt unsicher.“Das Fazit der Klasse? Die Abhängigke­it, die mit einer Demenz einhergeht, ist unangenehm, sie schafft aber auch Vertrauen und Nähe. Und das kann durchaus schön sein.

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Foto: Jens Kalaene, dpa Herd aus? Zettel wie diese sollen Menschen mit Demenz an Dinge erinnern, die sie sonst vergessen würden. In Augsburg zeigt das Projekt „Demenz besser verstehen“Schülern, was Demenz ist und wie sie damit umgehen sollten.

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