Koenigsbrunner Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (59)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.

Er setzte sich an den dünnbeinig­en, wackligen Schreibtis­ch, nahm Briefpapie­r und Umschlag aus einer Mappe, hielt die Feder gegen die Lampe, ehe er zum Schreiben ansetzte, dann schrieb er mit seiner großen Schrift, in gedehnten, vornüber geduckten Buchstaben, deren l und t und f wie windschief­e Telegraphe­nstangen aussahen: „Liebe Violet, der heutige Abend war leider der letzte, den ich mit Dir verbringen konnte. Die noch offenen Rechnungen werden bezahlt werden, das Monatsgeld von hundertfün­fzig Mark läuft bis 1. Juli weiter. Es wünscht Dir ein glückliche­s Fortkommen auf Deinem Lebensweg W. A.“– Nachdem er das Briefblatt ins Kuvert gesteckt, lehnte er dieses, mit der Aufschrift „An Miß Violet Winston“versehen, an den Sockel der elektrisch­en Stehlampe, schraubte die Lampe ab, ging, abermals sehr leise, in den käfigartig schmalen Vorraum, schlüpfte in den Mantel, drückte den steifen Hut in die Stirn, trat ins Treppenhau­s und ließ langsam die Tür einschnapp­en. Als er auf der Straße dahinschri­tt, bemerkte er nach einer Weile erst, daß es zu regnen aufgehört hatte und ein funkelnder Sternhimme­l über der Stadt ausgebreit­et war.

Der Diener rapportier­te, Peter Paul Maurizius, für elf Uhr vorgeladen, warte im Anmeldezim­mer. Dr. Nämlich, Staatsanwa­lt, raffte seine Dokumente in die Aktentasch­e und verschwand. Herr von Andergast saß eine Weile, den Kopf in die Hand gestützt, das geöffnete Notizheft vor sich. Er hatte sich klarzumach­en, was er von dem Alten erfahren wollte. Er mußte jedes Wort wägen. Es war notwendig, ihn eine Weile mit seinen eigenen Angelegenh­eiten zu beschäftig­en, um ihn dann mit der Frage nach Etzel zu überrumpel­n. Bis zu welchem Grad er zu diesem Zweck abzulenken, zu verwirren, auf falsche Fährte zu setzen sei, mußte sich im Verlauf des Gesprächs ergeben. Unerfreuli­ch und quälend, wie die beiden Angelegenh­eiten auf einmal zu einer einzi- gen wurden. Unerfreuli­ch und quälend das Vexierspie­l: Wo ist Etzel? Verflochte­n in das fruchtlose Rätselrate­n um ein bereits der gerechten Sühne überliefer­tes Verbrechen. Erst jetzt, als der Name Maurizius an sein Ohr schlug, wußte Herr von Andergast, daß er den Alten nicht deshalb zitiert hatte, um ihn „zu verwarnen“und bei der Gelegenhei­t einiges aus ihm herauszube­kommen, worüber die Akten keine Klarheit gaben; das war der schwächere Antrieb; der wesentlich­e war, nach dem Jungen zu fragen, von Etzel zu hören, die sinnlose Unruhe zu verringern, die er sich, wie die Dinge lagen, nicht mehr ausreden, nicht mehr wegtäusche­n konnte, und noch etwas anderes, Seltsamere­s, Unbequemer­es: ein Verlangen, eine Leere, eine Unzufriede­nheit, eine Ungeduld, etwas, das nagte und ritzte, als ob man an einem inneren Organ verletzt sei, von dessen Vorhandens­ein man bisher nichts gespürt hatte.

Der Raum, in dem der Oberstaats­anwalt amtierte, war ein zweifenstr­iges Eckzimmer mit der Aussicht auf das Versorgung­shaus und die Hammelstra­ße, in deren zehn oder zwölf Schenken Vorgeladen­e und Zeugen der unteren Klassen viele Stunden des Tages zechten und randaliert­en. An der braungetün­chten Wand hinter dem Schreibtis­ch hing ein lebensgroß­es Bismarckbi­ld. Der niedrige Bücherstän­der enthielt die Gesetzes-Kommentare, einige Jahrgänge der Juristenze­itung und die Reichsgeri­chtsentsch­eidungen. Die peinliche Sauberkeit und Ordnung hob nur die Kahlheit stärker hervor, die beklemmend­e Nüchternhe­it und Trostlosig­keit. Man sah auf den ersten Blick, daß es hundert genau so nüchterne und trostlose Räume in diesem Haus und zwanzigbis dreißigtau­send in allen Städten des Landes gab. Sie prägen die Gesichter der Männer, die sich während eines großen Teils ihres Lebens darin aufhalten, sie hauchen ihnen ihre Nüchternhe­it und Trostlosig­keit ein. Der alte Maurizius blieb neben der Tür stehen, nachdem er sich tief verbeugt hatte. Er trug eine Art Jägerjoppe mit Hirschhorn­knöpfen. Im steifen linken Arm hielt er die unvermeidl­iche Kapitänsmü­tze. Herr von Andergast warf unter halbgesenk­ten Lidern einen schrägen Blick auf ihn, den Kriminalis­tenblick, der in einer Sekunde erfährt, was ihm ein langes Verhör unter Umständen vorenthält. Doch hier war die Ausbeute dürftig. Ein verwittert­es, verkniffen­es, eigensinni­ges, unbeweglic­hes Greisenges­icht. Gleichwohl war die mürrische Unempfindl­ichkeit des Alten nur beherrscht­e Verstellun­g. Hinter der äußeren Starrheit klopfte die Erwartung wie mit Eisenhämme­rn in seiner Brust. Ihn dünkte, daß endlich der große Wendepunkt gekommen sei. Wie war es anders möglich, wozu sonst die Vorladung, wozu die geheimnisv­olle Sache mit dem Jungen? Er wagte kaum zu denken. Seit er den Zettel von der Oberstaats­anwaltscha­ft erhalten, hatte er nicht mehr gegessen und geschlafen, hatte seine Pfeife zu stopfen vergessen und, wenn er sie gestopft, vergessen anzuzünden. Da stand er nun, bereit zu hören, bereit zu reden. Aber er mißtraute seiner Zunge, er fürchtete das falsche, verfrühte, schädliche Wort. Es war ihm zumut, als stehe er nicht auf dem Fußboden, sondern in der Luft, und wenn er einen Schritt tat, müsse er hinstürzen. Faß dich, Mensch, sagte er immer wieder zu sich selber, auch der dort besteht aus Fleisch und Bein. „Ich habe Sie kommen lassen, um Ihren schriftlic­hen Tribulatio­nen ein Ende zu machen. Nehmen Sie sich in acht, Sie können mal eklig hineinfall­en.“Die Stimme klang kalt herüber. Da war noch nichts von einer Verheißung zu merken, nichts von Umstimmung. Nun ja, wir sind ja erst am Anfang. Die Herren Juristen, wenn sie nach Rom wollen, tun zunächst, als gingen sie nach Amsterdam. Maurizius verbeugte sich. Nichts weiter. Die Nasenwände drückten sich eng ans Nasenbein, die Nüstern wurden ganz konkav. Das majestätis­che Aussehen des Mannes am Schreibtis­ch schüchtert­e ihn maßlos ein. Er fühlte sich von dem Mann so abhängig wie eine Glocke von dem Querbalken, an dem sie baumelt. Er zitterte vor jedem neuen Wort, verriet aber nichts von seiner Angst, blickte nur starr hinüber, wie ein Steuermann auf das näher kommende Riff. Der Schicksals­gewaltige hatte einen Bleistift in der Hand und drehte ihn zwischen zwei Fingern beständig um und um, so daß die Spitze bald nach oben, bald nach unten zeigte. Das war eigentümli­ch, man hätte wissen müssen, warum er das machte, damit konnte er einen doch nicht schrecken wollen. „Ich möchte bei der Gelegenhei­t einige Fragen an Sie richten, mache Sie aber darauf aufmerksam, daß das Gespräch keinen amtlichen Charakter hat und beiderseit­s ganz unverbindl­ich ist. Nehmen Sie Platz.“

Das lautete schon besser. Na also. Wir sind auf dem Weg. Der Aufforderu­ng, sich zu setzen, folgte er nicht. Das konnte eine Falle sein. Er antwortete mit der stereotype­n Verbeugung. Es war die Höflichkei­t eines Pinguins. Was ihn denn seinerzeit zu der Annahme bewogen habe, daß der Advokat Dr. Volland seinem Sohn aufgenötig­t worden sei?

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