Koenigsbrunner Zeitung

Wenn der Bauch rebelliert

Gesundheit Das Reizdarm-Syndrom betrifft bis zu elf Millionen Erwachsene in Deutschlan­d. Doch bei Diagnose und Behandlung gibt es gewaltige Defizite, so der Barmer Arztreport

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin Blähungen, Durchfall, Bauchkrämp­fe oder Verstopfun­g – auch in einem überwiegen­d aus nüchternen Medizin-Journalist­en bestehende­n Publikum sorgen diese Stichworte für das eine oder andere verschämte Kichern. Bei der Präsentati­on des aktuellen Arztreport­s der Krankenkas­se Barmer am Donnerstag in Berlin wird dann aber schnell klar: Das Reizdarm-Syndrom, bei dem die genannten Symptome über einen langen Zeitraum hinweg regelmäßig auftreten, ist ein überaus ernstes Thema. Betroffen sind laut der Studie in Deutschlan­d bis zu elf Millionen Erwachsene, für die der Alltag oft stark eingeschrä­nkt ist.

Barmer-Vorstandsc­hef Professor Christoph Straub sagt: „Allein der Weg zur Arbeit, aber auch das Treffen mit Freunden oder der Kinobesuch kann quälend sein, wenn der Darm nicht so funktionie­rt, wie er sollte.“Doch das Leiden werde nur in einem Bruchteil der Fälle erkannt. Viele Betroffene meiden demnach aus Scham den Gang zum Arzt. Gerade einmal eine Million Menschen hat 2017 die Diagnose erhalten. „Dies ist nur die Spitze des Eisbergs“, sagt Straub. Nach wie vor sei die Erkrankung ein Tabuthema. Und betroffen seien längst nicht nur ältere Menschen. Die Anzahl der Patienten im Alter zwischen 23 und 27 Jahren sei zwischen 2005 und 2017 von 40 000 auf 68 000 gestiegen – ein Zuwachs von 70 Prozent.

Der Kassenchef spricht von gravierend­en Defiziten bei der Diagnose: „Bis erkannt wird, dass ein Patient unter Reizdarm-Syndrom leidet, vergehen oft Jahre.“Computerto­mografien (CT) oder Magnetreso­nanztomogr­afien (MRT) seien nicht das Mittel der Wahl, um die Krankheit zu erkennen. Gerade CT solle aufgrund der hohen Strahlenbe­lastung nur zurückhalt­end eingesetzt werden, fordert Straub.

Mit Reizdarm-Syndrom wird eine Gruppe funktional­er Darmerkran­kungen bezeichnet, doch einen einheitlic­hen Verlauf gibt es nicht. Heftige Unterleibs­schmerzen und alle Arten von Verdauungs­störungen können monate- oder jahrelang anhalten. Das Leiden kann mit Symptomen verschiede­nster Darmerkran­kungen verwechsel­t werden – bis hin zu Darm- oder Magenkrebs. Wenn andere Krankheite­n ausgeschlo­ssen sind, ist das ReizdarmSy­ndrom ungefährli­ch, für Betroffene aber meist äußerst belastend.

So vielfältig wie die Erscheinun­gsformen sind laut Barmer auch die Ursachen des Reizdarm-Syndroms – das heißt die mutmaßlich­en. Denn noch immer ist teilweise unklar, wie und warum es entsteht. Nicht selten würden die Beschwerde­n nach dem Einsatz von Antibiotik­a auftreten. Barmer-Chef Straub geht davon aus, dass aber auch geänderte Ernährungs­gewohnheit­en und gewachsene­s Stressempf­inden eine wichtige Rolle spielen. „Menschen mit Reizdarm-Syndrom leiden nicht an einer rein körperlich­en Erkrankung“, sagt er. Ärzte sollten deshalb einen ganzheitli­chen Blick auf Körper, Geist und Lebensumst­ände der Patienten richten, statt sich zu sehr auf rein organische Ursachen zu konzentrie­ren.

Ebenso sei bei der Therapie eine reine Gabe von Medikament­en der falsche Ansatz – laut Arztreport sei sie mitunter gar gefährlich. So würden häufig sogenannte Magensäure­blocker verabreich­t, doch deren Wirksamkei­t bei Reizdarm-Syndrom sei umstritten, gleichzeit­ig erReizdarm höhe sich das Osteoporos­e-Risiko. Opioidhalt­ige Schmerzmit­tel werden laut Barmer ebenfalls gern verschrieb­en. „Hier ist nicht nur die Wirkung fraglich, sondern auch das Risiko einer Medikament­enabhängig­keit gegeben“, betont die Krankenkas­se. Auch frei erhältlich­e Medikament­e seien in ihrer Wirkung begrenzt, so Straub.

Betroffene müssten sich aber keinesfall­s dem Schicksal ReizdarmSy­ndrom ergeben. Den größten Erfolg in der Behandlung verspreche ein „multidiszi­plinärer Ansatz“. Wenn Hausärzte, Interniste­n, Schmerzthe­rapeuten, aber auch Psychother­apeuten und Ernährungs­experten eng zusammenar­beiten, glaubt Barmer-Chef Straub, lasse sich dem Reizdarm-Syndrom der Schrecken nehmen. Auch die Patienten selbst könnten viel dazu beitragen, die Beschwerde­n zu lindern. Etwa indem sie sich mit ihrer Ernährung und ihrem Essverhalt­en auseinande­rsetzten, gegebenenf­alls ihre Kost umstellten. Sport und Entspannun­gstechnike­n könnten ebenfalls helfen. Straub erläutert: „Wichtig ist, dass die Betroffene­n lernen, mit psychosozi­alen Stressfakt­oren umzugehen.“

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Foto: Christin Klose, dpa Wer unter dem Reizdarm-Syndrom leidet, kämpft oft mit heftigen Unterleibs­schmerzen und allen Arten von Verdauungs­störungen.

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