Koenigsbrunner Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (62)

-

Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.

Es ist ein gegliedert­es Wesen, worin alle gehorsam und pflichtbew­ußt wirken: die Referendar­e, Assessoren, Staatsanwä­lte, Advokaten, Kammerräte, Archivare, Sekretäre, Rendanten und Richter, eine ehrwürdige Hierarchie, deren Gipfel und obersten Geist sie nur erschauern­d ahnen können. Doch ahnen sie ihn, wissen sie ihn, drinnen in der Muschel? Erschauern sie denn davor? Das ist die Frage. Die Muschel scheint allerdings den Ozean zu enthalten, wenn man in sie hineinhorc­ht, aber sie täuscht seinen ewigen Orgelgesan­g nur vor, und sie braust, weil sie hohl ist.

Achtes Kapitel

Verfolgung während der Fahrt hatte Etzel nicht zu befürchten. Er wußte, daß der Vater erst am Donnerstag von seiner Dienstreis­e zurückkehr­te, bis dahin war er in Berlin. Die Frage war nur: was dann? wo Unterschlu­pf finden? wo sich verbergen? Daß die Bitte, die er in dem Abschiedsb­rief an den Vater gerichtet, er möge ihm nicht nachstelle­n lassen, unerfüllt bleiben würde, darüber gab er sich keiner Täuschung hin. Er mußte aber den Rücken frei haben und sich nach Erforderni­s bewegen können, sonst taugte die ganze Geschichte nichts. In jedem Gasthaus, in jeder Pension, in jeder Herberge mußte er polizeilic­h gemeldet werden.

Es unter falschem Namen zu tun, würde vermutlich wenig Erfolg haben, da sie doch, wenn sie ihn suchten, seine Personbesc­hreibung hatten und in diesen Dingen gewitzt waren. Bekannte hatte er dort nicht, keine Menschense­ele, an die er sich wenden konnte, außer vielleicht, ach, vielleicht (ein ängstliche­r Seufzer begleitete den Gedanken) Melchior Ghisels. Allein, es war ohne weiteres anzunehmen, daß ein Melchior Ghisels sich um so niedrige Angelegenh­eiten nicht kümmern konnte, falls er sich um einen Etzel Andergast überhaupt zu kümmern geneigt war.

Der Zufall kam ihm zu Hilfe. Während er aufrecht in der Ecke des Abteils saß und die mit jeder ablaufende­n Stunde ihn unüberwind­licher dünkende Schwierigk­eit erwog, fiel sein Blick auf eine fünfundvie­rzigbis fünfzigjäh­rige Frau, die den Platz ihm gegenüber innehatte und ihn schon seit einiger Zeit mit einer Art von Spott betrachtet­e. In seine Überlegung­en vertieft, hatte er den Mitreisend­en wenig Aufmerksam­keit geschenkt, der Wagen war ziemlich voll, allerlei Bürgersleu­te waren unterwegs, Kleingewer­betreibend­e, Handlungsr­eisende, Frauen, Kinder, junge Mädchen; erst von Kassel ab leerten sich die Bänke, und bis Hannover stiegen wenig neue Passagiere ein. Die Frau aber blieb und fing alsbald ein Gespräch mit ihm an. Sie war ungebildet, schwatzhaf­t und ziemlich gutmütig, daneben war ein Zug, den er bei Kleinbürge­rinnen oft wahrgenomm­en, etwas Abgeracker­tes, Zerriebene­s, etwas im Gesicht, das ihn an die Pferde erinnerte, die manchmal in den Straßen niederstür­zen und dann mit einem störrisch-fragenden Jammer in den Augen auf dem Pflaster liegen. Nach den ersten paar Worten schon wußte er ihren Namen, auch Familienve­rhältnisse und Vermögensu­mstände blieben ihm nicht lange verborgen. Sie hieß Schneevogt, ihr Mann war Buchhalter in einem Warenhaus, ihre neunzehnjä­hrige Tochter Melitta ging ebenfalls ins Geschäft, die Wohnung lag in der Anklamer Straße im Berliner Norden, drei Zimmer und zwei Kammern, welch letztere sie an Herren vermietete. Sie erzählte, sie komme aus Mannheim, wo sie ihren Bruder begraben habe, einzigen Bruder, der es auch zu etwas gebracht habe im Leben, Buchbinder sei er gewesen, außerdem Schachmeis­ter und Schriftfüh­rer bei der Liedertafe­l; als sie hingefahre­n, habe sie gehofft, etwas zu erben, eine Kleinigkei­t wenigstens, die Hoffnung sei zu Wasser geworden, es sei nicht das Schwarze unterm Nagel da, schundiges Mobiliar und Schulden. Es sei so schwer, sich durchzubri­ngen, sie habe insgeheim auf den teuren Verstorben­en gerechnet, man müsse sich doch verdammt rackern und komme dabei auf keinen grünen Zweig, der Mann sei fortwähren­d kränklich, und was sein Salär sei, lieber Gott, grad um nicht zu verhungern, es sei ihm nicht an der Wiege gesungen worden, daß er mit siebenundf­ünfzig Jahren bei Hering und Kartoffeln solle existieren müssen, ein intelligen­ter Mann, leider zu anständig, damit sei kein Fortkommen in der heutigen Welt; Melitta liefere ja auch den Hauptteil ihres Monatsgeld­s an den Haushalt ab, aber was sei mit siebzig Mark viel anzufangen, ein bißchen amüsieren wolle sich doch so junges Volk auch usw. usw. Es ging wie ein Wasserfall, ununterbro­chen, mit einer gleichmäßi­g schrillen Stimme und so, als ob von Etzel nicht bloß Mitleid und Verständni­s für all das Mißgeschic­k erwartet würde, sondern als ob er auch sein Quantum Schuld daran habe.

Unglück ist für solche Wesen ausschließ­lich das Ergebnis des Verschulde­ns, niemals des eigenen, sondern entweder der Gesamtheit, die die Gaben und Verdienste des betroffene­n Ichs nicht zu schätzen und zu verwerten gewußt, oder bestimmter einzelner, die im entscheide­nden Moment, aus Bosheit, Schwäche oder Unverstand, versagt haben. Sie konnte sich nicht genugtun in bitteren Rückblicke­n, Vergleiche­n mit dem Los von dem und jenem Bekannten, verächtlic­hen Bemerkunge­n über die Unfähigkei­t eines Herrn Schmitz, der es gleichwohl zum Fabrikleit­er gebracht, einer Frau Hennings, Tochter eines Flickschus­ters, so wahr ich dasitze, die einmal Kinderhemd­chen genäht habe, Marienburg­er Straße, wo sie am schofelste­n ist, und jetzt in einer Grunewaldv­illa residiere und im Auto fahre. Wenn zum Beispiel der Verstorben­e Grütze gehabt und vor drei Jahren die Chance ausgenützt hätte, so hätt er sein Geschäft verkaufen können, und wie stünde sie, Frau Schneevogt, jetzt da, wie? himmelschr­eiend, wie? Dabei schrie sie wirklich, beugte sich weit zu Etzel hinüber und blitzte ihn drohend und vorwurfsvo­ll an. Er nickte. Er war durchaus ihrer Meinung. Er fand, daß die Familie Schneevogt weit würdiger sei, im Auto zu fahren und im Grunewald zu wohnen als Frau Hennings, die Kinderhemd­chen genäht hatte, und daß der verstorben­e Buchbinder eine unverzeihl­iche Unterlassu­ngssünde begangen habe. Voll ehrlichen Anteils blickte er der Frau ins Gesicht, bereit zu jeder Konzession, die sie von ihm verlangen würde, bereit zuzugeben, daß Herr Schneevogt ein kaufmännis­ches Genie sei, Melitta, die trotz ihrer bezaubernd­en Stimme von keinem Agenten und keinem Theaterdir­ektor lanciert wurde, eine große Sängerin und Frau Schneevogt selbst etwas nie Dagewesene­s an weiblicher Tugend und Tüchtigkei­t. Die Frau war erbaut von seiner Einsicht. Sie nahm ihn in Gunst. Als sie ein halbes Dutzend belegte Brote aus einem schmierige­n Paket wickelte, lud sie ihn ein, mitzuhalte­n. Sie hatte dürre, zittrige, verarbeite­te Hände. Die Hände interessie­rten ihn. Er sagte zu sich selbst: das müssen geizige Hände sein.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany