Als der Stasi-Mann aus dem Passamt floh
Klaus M. war ein zuverlässiger Mitarbeiter der Stadt Augsburg. Bis er 1979, mitten im Kalten Krieg, über Nacht verschwand. Polizei und Geheimdienste ermittelten wegen Spionageverdachts. 40 Jahre später lässt sich endlich klären, wie es wirklich war
Am Freitagabend schien alles normal. Klaus und Eva M. (Namen geändert) waren im Augsburger Stadtteil Oberhausen zu einer Feier eingeladen, die Stiefschwester von Eva M. hatte Geburtstag. „Beide verhielten sich ungezwungen und fröhlich“, sagte diese später der Polizei. Das Ehepaar fuhr im Taxi heim. Gegen 0.25 Uhr rief Eva ein letztes Mal bei der Stiefschwester an: Gut heimgekommen. Aber sie habe „hastig“gesprochen und „atmete schwer“.
Am Montagmorgen, 27. August 1979, war nichts mehr normal.
Klaus M., Angestellter in der Passstelle des Einwohner- und Ordnungsamts der Stadt Augsburg, erschien nicht zum Dienst. Sein Chef Wolfhard Böttcher, heute 82, kann sich noch daran erinnern, wie besorgt er damals war. „Er war sehr zuverlässig und fehlte nie unentschuldigt“, sagt er knapp 40 Jahre später. Der Chef dachte erst an ein Unglück und rief die Polizei.
Polizei und Feuerwehr brachen M.s Wohnung in der Jakobervorstadt auf. Niemand da. Aber die Beamten hatten den Eindruck, dass die Wohnung „fluchtartig“verlassen worden war. Wolfhard Böttcher hatte kein gutes Gefühl: Ein zuverlässiger Mitarbeiter in einem „sicherheitsrelevanten Bereich“, der Zugriff auf Ausweisdokumente hat, der regelmäßig Verwandte in der DDR besucht und dann verschwindet. Schnell stand ein Verdacht im Raum: Spionage.
Hatte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR mitten im Kalten Krieg einen Spion in der Augsburger Stadtverwaltung platziert? Arbeitete der korrekte Mann aus der Passstelle für den Osten? Am Dienstagmorgen meldete sich M. bei seinem Chef telefonisch und per Telegramm aus Berlin-Ost. Der 55-Jährige nannte „dringende familiäre Angelegenheiten in der DDR“als Grund für sein Fehlen. Er könne nicht sagen, wie lange es dauert.
Sein Chef sagte ihm nicht über den Verdacht. Der Generalbundesanwalt ermittelte wegen des „Verdachts geheimdienstlicher Agententätigkeit“gegen die Eheleute. Man filzte deren Wohnung und das Büro, erließ Haftbefehle. Doch alle westdeutschen Mühen endeten an der Grenze zur DDR. Das Verfahren wurde eingestellt.
Knapp 40 Jahre später erinnerte sich ein Reporterkollege an seine Berichte über den dubiosen Fall: „Augsburger als Spion verdächtig“, lautete 1979 eine der Schlagzeilen. Die große Frage: Kann man heute, viele Jahre nach der Wende, die Geschichte endlich klären?
Die Suche nach Antworten führt in Archive. Eine Anfrage beim Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen schafft einen Rest an Ost-Akten zu Tage. Sie haben die SchredderAktion des Auslands-Arms, der Hauptverwaltung Aufklärung, in der Wendezeit überstanden. Kernaussage: Klaus M. wurde von der DDR-Staatssicherheit als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) „Interburg“geführt. Was er an Informationen und Dokumenten lieferte, habe einen „hohen operativen Wert“gehabt, steht in einem Stasi-Bericht.
Der zweite Teil der Antworten liegt in einem Karton in München. Das Hauptstaatsarchiv verwahrt die lange als geheim eingestuften und für unsere Zeitung erstmals zugänglichen Akten der West-Ermittler. Sie stammen aus der Überlieferung der Staatsanwaltschaft beim Bayerischen Obersten Landesgericht, Aktenzeichen ObJs I 30/81. Fügt man beide Quellen zusammen, kommt auch ein Puzzleteil zum anderen.
Klaus M., Jahrgang 1924, stammte aus Böhmen. Im Zweiten Weltkrieg war er Marinesoldat. Er lebte zunächst in der Heimat seiner Frau Sachsen, 1949 zog das Paar nach Augsburg. M. arbeitete als Angestellter im Passamt. Er trug immer Anzug, schlug nie über die Stränge – der perfekte Mann für einen so sensiblen Bereich. Denn damals wurden Ausweise und Pässe noch dezentral in Ämtern ausgestellt, nicht in der Bundesdruckerei. Als einer von wenigen Mitarbeitern hatte M. Zugriff auf die verschlossen gelagerten leeren Ausweisdokumente.
Und (falsche) Dokumente waren begehrt bei Geheimdiensten in Ost und West. Ehemalige Mitarbeiter der Behörde berichten von regelmäßigen Besuchen westdeutscher Geheimdienstler in der Passstelle. Genau an dieser Stelle saß Klaus M. über Jahre. Und bekam Lob: „Die ihm übertragenen Aufgaben hat er stets gewissenhaft erfüllt.“Diese Aussagen stammen aber nicht von der Stadt Augsburg, sondern von der DDR-Staatssicherheit.
Im Jahr 1963 hatte die Stasi laut ihren Akten einen Hinweis auf Klaus M. bekommen, der regelmäßig zur Verwandtschaft seiner Frau in die DDR reiste. Man baute Kontakt auf, im März 1968 wurde er als IM geworben. Die Akten beantworten eine Frage, die westdeutsche Ermittler nie wirklich klären konnten. Die Frage, warum „Interburg“so plötzlich aus Augsburg verschwand.
Polizei und westliche Geheimdienste lagen mit ihrer vagen Ver- mutung richtig, dass das Verschwinden von Klaus M. und seiner Frau mit der Festnahme eines Stasi-Ehepaars am 25. August 1979 in Westberlin zu tun hatte. Die beiden waren M. als neue Kontaktpersonen vorgestellt worden. Die Stasi wollte nichts riskieren und beorderte Klaus M. zurück. Der ostdeutsche Geheimdienst war zu dieser Zeit in die Defensive geraten, mehrere Spione in Westdeutschland waren aufgeflogen. Die Angst vor weiteren Enttarnungen war groß. Wann Klaus M. zurückberufen wurde, ist nicht dokumentiert. Vielleicht nach der Geburtstagsfeier am Freitagabend. Die Eile jedenfalls war groß.
Die Polizei berichtete in Durchsuchungsprotokollen von Hinweisen auf eine Flucht: „In der Küche steht eine noch halb gefüllte Kaffeekanne und eine bis zu einem Drittel mit Kaffee gefüllte Tasse.“Auf dem Bett lagen Kleiderbügel, im Wohnzimmer Bügel und ein „Herrenslip“. Die Stiefschwester von Eva M. sagte der Polizei: „Die unaufgeräumten Sachen sind für mich ein deutlicher Hinweis, dass das Ehepaar überstürzt die Wohnung verlassen hat. Meine Stiefschwester ist eine sehr penible Hausfrau.“
Die Ermittler fanden Zettel mit Adressen und verdächtige Zahlenkolonnen teils als Abdrücke auf Schreibunterlagen. In einer Ledertasche entdeckten sie ein Geheimin fach. Sie stellten mehrere Radiogeräte sicher. Das Auto des Paares, ein gelber Opel Commodore, aber war weg. Die Ermittlungsmaschine lief auf Hochtouren.
Wenige Tage später meldete sich eine DDR-Spedition, die den Transport der Möbel des Ehepaars M. nach Ostberlin organisieren wollte. Beamte des Landeskriminalamts gingen noch einmal in die Wohnung und stellte einiges sicher, etwa den „Farbfernseher, Marke Grundig, Typ Super-Color 6011 mit Fernbedienung“. Der Verfassungsschutz untersuchte Geräte und Unterlagen. Im Mai 1980 listete ein Abschlussvermerk des Landeskriminalamtes die Erkenntnisse auf.
Klaus M. stand demnach unter dem Verdacht, „vermutlich ab 1974“einer „nachrichtendienstlichen Tätigkeit für das MfS“nachgegangen zu sein. Er habe die Möglichkeit gehabt, Pässe zu liefern. Es gebe „eindeutige Hinweise“, dass er per Funk verschlüsselte Nachrichten aus dem Osten empfangen habe. Der Verfassungsschutz machte als Empfangsgerät ein „Transistorradio ITT-Schaub-Lorenz“aus. Aus den Zahlenkolonnen – es waren immer fünf Ziffern in Gruppen – fischten Beamte Nachrichten-Bruchstücke.
So etwa eine vom 12. Februar 1979: „MAT(erial) MIT BESTEM DANK ERHALTEN.“Mithilfe der Stasi-Akten lässt sich sagen: Am 10. Februar 1979 hatte sich Klaus M. an der damaligen Raststätte Hienberg an der A9 mit seinem Stasi-Kontaktmann getroffen. „Interburg“übergab dabei eine Kassette mit Informationen über den in den Westen übergelaufenen Stasi-Offizier Werner Stiller. Für 1977 bis 1979 lassen sich mit Hilfe der Stasi-Akten zwölf Treffen in Nordbayern zwischen „Interburg“und seinem Kontaktmann meist samt Ehefrauen belegen – inklusive der Lieferungen.
Mitte April 1977 übergab Klaus M. dem Boten ein Exemplar des Fahndungsbuchs der BRD, das er zwei Tage später zurückerhielt. Der Einblick in die aktuellen Fahndungen im Westen war begehrt. Außerdem brachte er an diesem Tag unter anderem „7 Blanko-Reisepässe BRD, 6 Blanko-Personalausweise“. In anderen Fällen waren es auch allgemeine Informationen über das Pass- und Meldewesen im Westen, Leim für die Befestigung von Passfotos, einmal „4 Reisepässe, genutzt vom BND“und immer wieder leere Pässe. Und der städtische Mitarbeiter ging offenbar geschickt vor.
Im Amt wurden nach seiner Flucht alle Blanko-Dokumente gezählt. Keines fehlte. Klaus M. hatte offenbar alle getäuscht. Nur wie? In seinem Schreibtisch fanden die Ermittler drei Blanko-Pässe, für die es zugleich Fehlanträge gegeben habe; sie hätten als vernichtet gegolten. Zudem entdeckten sie dort einen besonderen Pass.
Er war auf den Schwager von Klaus M. ausgestellt, der davon laut Ermittlungsbericht aber nichts wusste. Das Landeskriminalamt folgerte daher: „Es kann davon ausgegangen werden, dass sich der Beschuldigte selbst Reisepässe unter den Personalien des [Schwagers] ausstellte, um Reisen in die DDR oder nach Westberlin den Behörden (…) zu verheimlichen.“Der StasiKontaktmann bemängelte genau dies in seinen Berichten an seine Vorgesetzten – aus seiner Sicht war das zu riskant.
Zwischen beiden war das Verhältnis mit der Zeit angespannt geworden. Der Kontaktmann ärgerte sich etwa darüber, dass „Interburg“auch direkt mit der Zentrale kommunizierte. In einer Einschätzung der Zuverlässigkeit merkte auch die Stasi mit Blick auf „Interburg“an: „Aufgetretene Probleme in der Zusammenarbeit resultierten aus seinem komplizierten Charakter.“Er und sein Stasi-Instrukteur trafen sich ein letztes Mal am 21. Juli 1979 an der Raststätte am Hienberg.
Wie in fast allen Fällen lässt sich der Termin in den im Hauptstaatsarchiv verwahrten Kalendern von Klaus M. nachvollziehen: Bis auf wenige Ausnahmen ist darin ein „x“zu finden, wenn es ein Treffen mit dem Kontaktmann gab. Legt man die Akten aus West und Ost nebeneinander, fällt auf: Polizei und WestGeheimdienste hatten eine grobe Vorstellung, was Klaus M. für die Stasi getan hatte. BND und Verfassungsschutz fürchteten nach Aktenlage wohl keinen ganz großen Schaden. Dafür stießen sie im Umfeld des Ehepaares auf verräterische Bestellungen.
Ein Augsburger Weinhändler nannte das Ehepaar M. seine besten Kunden. Sie hätten immer wieder für 2000 oder 3000 Mark (rund 1000 bis 1500 Euro) Wein bestellt – bei einem Monatseinkommen von 1900 Mark. Für das Landeskriminalamt stand daher fest, dass M. die Lieferungen kaum aus seinem „reellen Einkommen“bezahlt haben könne. Als Quelle vermutete man den Agentenlohn in unbekannter Höhe. Per Gerichtsbeschluss wurden 1985 rund 3500 Mark von den Konten des Ehepaars M. eingezogen. Das Verfahren gegen die beiden war zu dieser Zeit bereits vorläufig eingestellt und verjährte kurz vor der Wende 1989. Was „Interburg“nach der Flucht in den Osten machte, blieb lange im Dunkeln.
Seine Frau hatte Briefkontakt zu ihrer Stiefschwester – über die Adresse der Mutter. 1985 meldete sich Klaus M. schriftlich in Augsburg, um eine Bestattung für eine Verwandte in die Wege zu leiten. Als Absender notierte die Kriminalpolizei eine Adresse in Ostberlin.
Und die Stasi? In Unterlagen aus den 80ern führte sie den „ehem. Kundschafter“als Rentner, der in Berlin-Marzahn lebt. „Interburg“stelle „die Erfüllung seiner persönlichen Wünsche in den Vordergrund seiner weiteren Zusammenarbeit“. Zudem unterhalte er mit „Kenntnis und Unterstützung“der Stasi ein Verhältnis zu einer Inoffiziellen Mitarbeiterin. Ihr gegenüber habe er sich „abwertend“über ihm bekannte Stasi-Mitarbeiter geäußert. Womöglich hatte er andere Vorstellungen. In einem in seiner Augsburger Wohnung gefundenen Schriftstück hatte er von der Hoffnung geschrieben, „dass mein Wunsch, auch als Genosse in Euren Reihen aufgenommen zu werden, ebenfalls in Erfüllung geht“.
Bleibt eine Frage, die 40 Jahre nach Klaus M.s Flucht aus Augsburg sein damaliger Chef Wolfhard Böttcher stellt: Lebt er noch? Eine Melderegisterauskunft in Berlin ergibt, dass er am 7. April 2005 starb, seine Frau sechs Jahre später.
Er wurde gelobt – von der Staatssicherheit
Sie bestellten Wein für mehrere tausend Mark