Ein Verbrechen, das es nicht geben durfte
Es passte nicht ins Bild der sozialistischen Gesellschaft: Sexueller Missbrauch wurde in der DDR totgeschwiegen. Heute wollen Betroffene das Tabu brechen
Berlin Eltern, die ihre Kinder für den Strich verkaufen, Erzieher als Sex-Gewalttäter: Sexueller Kindesmissbrauch war eines der großen Tabu-Themen der DDR. Stärker und umfassender noch als in der Bundesrepublik wurde vertuscht und verschwiegen. Und das aus ideologischen Gründen: „Sexueller Kindesmissbrauch war in der DDR ein Politikum: Das passte nicht in die heile, sozialistische Welt“, erläutert die frühere Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Christine Bergmann, die heute in der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung von Kindesmissbrauch sitzt. Am Mittwoch stellte sie zusammen mit Betroffenen eine Studie vor, die Missbrauchsfälle in der DDR untersucht.
In die Untersuchung flossen persönliche Schicksale von mehr als 100 Männern und Frauen ein, die als Kinder und Jugendliche in der DDR sexuelle Übergriffe erlebten, teilte die Kommission mit. Forscher nennen die Ergebnisse erschütternd. Die Betroffenen haben der Kommission ihre Leidensgeschichten erzählt oder geschrieben – oft nach Jahrzehnten des Schweigens. Manche von ihnen hatten vorher noch nie darüber gesprochen. Corinna Thalheim, Vorstandsvorsitzende der Betroffeneninitiative „Missbrauch in DDR-Heimen“, gibt ihre Geschichte offen preis. Mitte der 1980er Jahre habe sie mit 16 die Schule geschwänzt. „Ich bin deshalb in den Jugendwerkhof Lutherstadt Wittenberg gekommen“, sagt sie. Nach drei Fluchtversuchen sei sie in den berüchtigten Jugendwerkhof Torgau gekommen. „Dort gab es so viel organisierte Gewalt und Missbrauch, dass es mir mein Leben ruiniert hat“, sagt sie heute.
Die Untersuchung ist nicht repräsentativ, wirft aber weitere Schlaglichter auf ein dunkles Kapitel der DDR. Noch deutlich häufiger als in Heimen kam es nach der Fallstudie in Familien zu sexueller Gewalt. Zu den Tätern zählten nach der Untersuchung Väter, Mütter, Großväter, Brüder und Cousins – es ging bis hin zu Gruppenvergewaltigungen. Rund 20 Betroffene berichteten bisher von organisiertem Missbrauch, bei dem Kinder für sexuelle Dienste verkauft oder wie eine Ware gegen andere Leistungen getauscht wurden. Die Studie zeigt auch, dass viele gleich mehrfach betroffen waren: So wurden etwa Kinder, die ein auffälliges Verhalten aufgrund sexuellen Missbrauchs in der Familie entwickelten, nicht selten in ein Heim geschickt und waren dort erneut sexueller Gewalt ausgesetzt.
„Ich habe anfangs auch gedacht, das kann es doch in der DDR nicht gegeben haben“, sagt Cornelia Wustmann, Professorin für soziale Beziehungen an der Technischen Universität Dresden. „Ich war selbst betriebsblind sozialistisch.“Der fortgeschrittene Sozialismus habe als deliktfreie Gesellschaft gegolten, erläutert Wustmann. Dogmatisch sei propagiert worden, dass es keine sexuelle Gewalt gebe. Deshalb seien diese Fälle auch nicht in der Kriminalstatistik aufgetaucht. Um nach außen als heile sozialistische Familie zu wirken, habe es oft Schweigegebote und Verleugnung der Straftaten gegeben. Opfer hätten sich kaum jemandem anvertrauen können, Therapieangebote habe es selten gegeben. „Verdrängen wurde so für viele Opfer zur Überlebensstrategie“, resümiert sie.
Bedrückend für viele Missbrauchsopfer in der DDR war, dass ihnen auch nach dem Mauerfall zunächst kaum jemand zuhörte. Seit der Heimkinderfonds 2014 für neue Anträge geschlossen worden sei, gebe es bis heute auf Bundesebene keine finanziellen Hilfen für Therapien. Auch im neuen Opferschutzgesetz sei dazu nichts vorgesehen. Thalheims Betroffeneninitiative fordert nun einen eigenen Hilfsfonds beim Bundesfamilienministerium. Missbrauchsopfer in der DDR seien bisher durch alle Raster gefallen, bilanziert auch Christine Bergmann. „Die vertraulichen Anhörungen bedeuten für Betroffene Anerkennung“, ergänzt sie. „Dort wird jetzt das geglaubt, was jahrzehntelang nicht geglaubt wurde.“Bei einer öffentlichen Anhörung von Betroffenen vor zwei Jahren hatte schon die damalige Familienministerin Katarina Barley (SPD) gesagt: „Nur weil es den Staat DDR nicht mehr gibt, dürfen wir keinen Schlussstrich ziehen unter das Leid der Betroffenen.“