Ein bisschen Sorge läuft immer mit
Bildung Ein zehnjähriges Mädchen nimmt jeden Tag zwei Stunden Weg auf sich, um auf die Schule ihrer Wahl zu gehen. Doch wie sicher sind die Schulwege in und rund um Augsburg?
Region Es war Mitte Februar, als der Schulweg eines Kindes zum Fall für den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof wurde. Ein Mann aus Oberfranken hatte geklagt, weil sein Sohn zwei Kilometer auf einer unübersichtlichen Straße zur Schule laufen musste. Einen Bus stellt der zuständige Landkreis ihm nicht zur Verfügung. Das Urteil des Gerichts brachte die Wende: Der Weg ist nicht zumutbar, das Landratsamt muss nun ein Taxi zahlen.
Unsere Zeitung startete daraufhin einen Aufruf auf Facebook: Wie lang und beschwerlich sind die Schulwege in und rund um Augsburg? Martina Wettig meldete sich. Bus und Zug, mit der Straßenbahn und zu Fuß – Wettigs Tochter nutzt alle Mittel auf ihrem Weg zur Schule. Jeden Morgen fährt das Mädchen im Schulbus von Ried bis zum Friedberger Bahnhof, nimmt die Regionalbahn nach Augsburg, um dort in die Tram zu steigen – und dann sind es noch ein paar hundert Schritte durch die Stadt. Dabei ist die Realschülerin gerade einmal zehn Jahre alt.
Um 6.45 Uhr morgens bricht Martina Wettigs Tochter auf, eine Stunde später erreicht sie ihr Ziel. Dabei sei sie doch Langschläferin, sagt die Mutter. Warum sie diesen Weg auf sich nimmt? Weil sie es will. Wettig erklärt: Mehrere Realschulen habe sie mit ihrer Tochter besichtigt, einen „Marathon“an Bewerbungsgesprächen absolviert, in Mering und Friedberg. Doch am Ende habe sich ihre Tochter eine christliche Schule in Augsburg herausgepickt. „So ist sie“, sagt ihre Mutter und lacht. „Sie wusste genau, was sie will.“Deshalb fährt ihre Tochter gerne mit Bus, Bahn und Tram. Deshalb geht sie gerne ein paar Schritte mehr.
In Bayern machen sich laut Innenministerium etwa 1,7 Millionen Kinder und Jugendliche jeden Tag auf den Weg zur Schule. Und nicht immer ist es die Schule ihrer Wahl, sondern die nächstgelegene. In Grundschulen wird ab einem Weg von zwei Kilometern die Beförde- zur nächstgelegenen Schule von den Kommunen bezahlt – dann, bis zur zehnten Jahrgangsstufe und ab drei Kilometern Schulweg, zahlt der Landkreis.
Doch dieses System kennt auch Ausnahmen. Derzeit gibt es zehn Schüler im Landkreis Augsburg, deren Schulweg als gefährlich eingestuft wird – auch wenn er keine drei Kilometer lang ist. Auch in diesen Fällen übernimmt der Landkreis die Kosten. Zwei Schüler aus Ötz bei Thierhaupten betrifft das. Ihr Schulweg: 1,5 Kilometer ohne Beleuchtung, und nur vormittags fährt ein Bus.
Zudem gibt es die sogenannte Winterlösung: Wenn es eisig wird und Straßen nicht vom Schnee geräumt werden, sind manche Schulwege versperrt. Zwei Schüler aus Königsbrunn müssten 600 Meter durch unbebautes Gebiet, das im Winter nicht geräumt wird. Sie profitieren von der Winterlösung. Ein Schüler aus dem Dorf Grünenbaindt wird per Zubringertaxi im Winter täglich nach Fleinhausen gefahren.
Und dann gibt es Kinder wie Martina Wettigs Tochter. Sie nimmt einen langen Weg freiwillig auf sich. „Einerseits sehe ich das positiv“, sagt Wettig. „Das hat sie in ihrer Entwicklung weiter gebracht, sie unglaublich selbstständig gemacht. Ich hätte das nie für möglich gehalten.“Andererseits: Die Sorge läuft für Martina Wettig jeden Tag ein wenig mit. „Ich möchte meine Ängste nicht auf meine Tochter übertragen“, sagt sie „Trotzdem sehe ich das natürlich mit gemischten Gefühlen.“Der Weg, so ganz allein, sei nicht ungefährlich für ein so junges Mädchen. Im Winter ist es dunkel, wenn für die Tochter der Weg beginnt, von der Gemeinde in die Stadt. In Ried leben etwa 3000 Einwohner, in der Stadt Augsburg fast 300000. Dazwischen liegt für das Mädchen eine Landkreisgrenze und ein Weg von einer Stunde.
Im Jahr 2018 ereigneten sich im Bereich des Polizeipräsidiums Schwaben Nord 48 Schulwegunfälle, 60 Schüler verletzten sich dabei. Diese Zahlen sind seit etwa zehn Jahren konstant. Mehr als die Hälfte aller Schulwegunfälle im Jahr 2018 hatten Schüler selbst verursacht. Doch: „Die Sicherheit auf Schulwerung gen ist eine vielschichtige Gemeinschaftsaufgabe“, erklärt Rainer Pabst, Pressesprecher der Polizei. Eltern, Polizei, Straßenverkehrsbehörden – sie allen stünden in der Verantwortung. Erwachsene müssten ihre Vorbildfunktion im Straßenverkehr erkennen.
Zu den Vorbildern zählen auch die etwa 870 Freiwilligen, die in und rund um Augsburg Schulwege sichern. Mit Warnkleidung und Kelle stehen die Schulweghelfer bereit. Seit 1980 hat sich in ganz Bayern an den Straßen, die durch die Helfer gesichert werden, kein einziger tödlicher Unfall mehr ereignet. Mitte der 1970er Jahre verunglückten in Bayern jedes Jahr noch bis zu 35 Kinder auf ihrem Schulweg tödlich. In den vergangenen Jahren sank die Zahl auf null. Es ist eine positive Notiz in der Statistik, doch die Straßen und Wege bleiben gefährlich. Die Zahl der Verkehrsunfälle auf Bayerns Straßen ist 2018 mit 410 252 Vorfällen wieder um 1,3 Prozent gestiegen, 618 Menschen kamen bei Verkehrsunfällen ums Leben. Und auf einen Trugschluss weist Rainer Pabst vom Polizeipräsidium hin: „Der kürzeste Schulweg ist nicht immer der sicherste Schulweg.“
Als Martina Wettigs Tochter noch zur Grundschule ging, war der Schulweg sehr kurz: „Es waren 400 Meter. Einmal über die Hauptstraße, einen Berg hinauf, schon war sie da.“Doch ihre Tochter lasse sich nicht beirren. „Eine Lehrerin hat mir mal gesagt: Ihr Kind hat eine ganz eigenwillige Kreativität.“Martina Wettig lacht dabei und beschreibt mit Stolz die Willensstärke ihrer Tochter, ihren Charakterkopf. Die Zehnjährige tanzt gerne einmal aus der Reihe, bricht aus der üblichen Ordnung aus. „Aber wenn es um ihren Schulweg geht, ist sie plötzlich ganz anders und so zuverlässig.“Das blonde Mädchen habe sich schnell an den Schulweg gewöhnt. „Nach einer Woche war sie mit allem vertraut. Sie nutzt dazu eine Verkehrs-App“, sagt Wettig. Ihre Tochter sei im Umgang mit der Technik sowieso viel versierter als sie selbst. „Geht etwas schief, teilt sie mir per Handy schnell mit: Mama, da ist jetzt ein Bus ausgefallen. Oder: Mama, ich nehm die nächste Straßenbahn.“
Bei einigen Schülern gilt der Schulweg als gefährlich