Stille Berührungen
Installation Arbeiten des amerikanischen Videokünstlers Bill Viola verwandeln die Moritzkirche. In stummer Zeitlupe wecken sie an vier Bildschirmen Emotionen und nehmen die Menschen ein
Waren diese Bildschirme schon immer da? So harmonisch fügt sich die Installation des amerikanischen Videokünstlers Bill Viola in den Kirchenraum von St. Moritz ein, dass sogleich der Eindruck von Vertrautheit entsteht. Doch sie bergen einige Überraschungen in der Entwicklung der vier Szenen. In stummer Zeitlupe spielen sich an vier verschiedenen Orten in der Kirche auf den Bildschirmen in den sieben bis zehn Minuten langen Videos dramatische Situationen der menschlichen Existenz ab – und dies in atemberaubender spiritueller Verdichtung.
Gleich rechts hinten, unter der Skulptur des heiligen Märtyrers Sebastian treten auf dem Bildschirm Menschen nach vorne, die mit etwas Schrecklichem konfrontiert werden und darauf mit Bestürzung reagieren. Der Betrachter sieht aber nur die Personen, die hier aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht werden. Ihre Gesten drücken aus, wie ergriffen, schockiert, traurig, ratlos, wütend und schmerzvoll sie empfinden. Menschen, die vordergründig nichts miteinander zu tun haben, suchen Nähe zueinander in Berührungen und Umarmungen. „Oberservance“(Betrachtung) nennt Viola diese Arbeit vom Jahr 2002. Die einzelnen Darsteller repräsentieren die gesamte Menschheitsfamilie.
Auf Pfarrer Helmut Haug wirkt der Ablauf wie eine Beweinung des am Kreuz getöteten Christus. Ein Moment des Erkennens liegt in den Gesten der Darsteller des Videos, als wären sie plötzlich aus ihrer Routine herausgerissen worden, und kämen zur Besinnung. In Korrespondenz mit der fast nackten Figur des von Pfeilen durchbohrten Blutzeugen könnte man auch an fanatisierte Gewalt oder ein Attentat denken, das sich ereignet haben könnte.
Bill Viola, 1951 in New York geboren, heute in Kalifornien lebend und einer der wegweisenden Protagonisten der Videokunst, lässt alle Deutungen offen. Doch unberührt lassen seine Videos auf keinen Fall. Pfarrer Haug und der Kunstreferent der Moritzkirche, Michael Grau, waren sofort gefesselt, als sie 2008 in St. Paul in London Bill Violas Arbeiten begegneten. Allerdings sollte zuerst St. Moritz durch die Neugestaltung John Pawsons ins lichtvolle, weiße Kleid gelangen, ehe Michael Grau geduldig vier Jahre lang darauf hinarbeitete, Videos von Bill Viola nach Augsburg zu holen. Im Festjahr zur Millenniumsfeier der Kirchengründung bildet die Installation „Infinite Journey“(Unendliche Reise) nun für sechs Monate bis zum 1. September einen Höhepunkt.
Durch die Langsamkeit der Bildentwicklung wirken die Videos fast wie Gemälde – obwohl Bill Viola oft das lebendige Element Wasser darin einsetzt. „Die Spannung wird durch Nichthandlung erzeugt. Viola gibt uns Gelegenheit, wie in Trance in die Bilder einzutauchen“, erklärte der Kurator von H2–Zentrum für Gegenwartskunst, Thomas Elsen, zur Eröffnung am Samstagabend. Das Cellistenpaar Hyun-Jung und Julius Berger ließen dieses Verrinnen der Zeit mit zeitgenössischen Stücken von Sofia Gubaidulina und Torben Maiwald nachvollziehen.
Die Videos vermitteln eine Ahnung der Vergänglichkeit an der Grenze zwischen Dies- und Jenseits. In „Three Women“(Drei Frauen, 2008) taucht eine Wasserwand, die lange nicht in Erscheinung tritt, die dahinter stehenden Frauen in aschfahle Grautöne. Gehören sie überhaupt der Gegenwart an? Oder sind es Erscheinungen aus einer anderen Welt, verblassenden Erinnerungen gleich? Erst als eine Figur nach der anderen durchs Wasser tritt, damit Körperlichkeit gewinnt und Farbe annimmt, erlangen sie reale Lebendigkeit. Doch dieser Übergang läuft auch wieder in die andere Richtung und die Hände, die sich die Mutter und ihre Töchter reichen, schaffen Verbindungen der Welten vor und hinter der Wasserwand.
Ebenfalls eine Wandlung vollzieht
Menschen suchen im Schmerz Nähe zueinander
Wie zur Apotheose taucht helles Licht den Märtyrer
sich in „Water Martyr“(Wassermärtyrer, 2014) in der Kreuzkapelle. Ein Mann liegt in sich gekrümmt am Boden. Um seine angezogenen Beine schlingt sich ein dickes Seil, das von oben herabhängt. Wir ahnen: Er wird kopfunter hochgezogen werden. Zugleich ergießt sich ein kräftiger Wasserstrahl über ihn. Das Ganze wird von oben herab in einen Lichtkegel getaucht wie in barocker Apotheose. Qual und Erquickung halten sich die Waage, ebenso Hängen und Heben des Körpers. Irgendwann nimmt der Mann eine umgekehrte Kreuzigungsgeste an, als wäre er der heilige Petrus – der in einer barocken Apostelfigur seitlich direkt auf ihn deutet.
In der Taufkapelle geht’s schließlich um „Ablutions“(Waschungen, 2005). Aus dem Off treten Mann und Frau an den Wasserstrahl heran und strecken ihre Hände darunter, sie empfangen das Nass, schließen sich, reinigen sich. Es entspricht allgemein religiöser Praxis, sich am Eingang des Heiligtums zu waschen, um geläutert am Gottesdienst teilzunehmen und den Schmutz der Welt und die eigene Sünde loszuwerden.