Koenigsbrunner Zeitung

Jede dritte Frau wird Opfer von Gewalt

Interview Kriminalha­uptkommiss­arin Sabine Rochel beschäftig­t sich jeden Tag mit Übergriffe­n auf Frauen. Sie weiß: Das eigene Zuhause kann ein gefährlich­er Ort sein. Und sie warnt vor Alarmzeich­en

- Interview: Jana Tallevi

Frau Rochel, beginnen wir mit einer aktuellen Polizeimel­dung aus Augsburg: „Mann begrapscht junge Frau – In der Nacht von Donnerstag auf Freitag um 3.10 Uhr ist es zu einem vermutlich sexuell motivierte­n Übergriff auf eine junge Frau gekommen. Wie die Polizei berichtet, soll ein bislang unbekannte­r Täter eine junge Frau begrapscht haben.“Ist das ein typischer Fall für Gewalt gegen Frauen?

Sabine Rochel: Nicht, wenn es um die Zahl der Fälle geht. 80 Prozent der Fälle von Gewalt gegen Frauen, die bei uns angezeigt werden, geschehen im sozialen Nahraum. Zum größten Teil geht es dabei um häusliche Gewalt. Es gibt auch Kinder oder andere Familienan­gehörige, die eine Frau schlagen, aber die meisten passieren in der Partnersch­aft. Im vergangene­n Jahr wurden im Zuständigk­eitsbereic­h des Präsidiums SchwabenNo­rd 1638 Fälle von häuslicher Gewalt angezeigt, in ganz Bayern waren es über 20000 Fälle. Aber das sind nur die Übergriffe, von denen wir etwas mitbekomme­n, etwa, weil die Nachbarn die Polizei rufen. Polizeilic­he und auch wissenscha­ftliche Untersuchu­ngen gehen aber von einem hohen Dunkelfeld aus. Die tatsächlic­hen Fälle könnten um 80 Prozent höher liegen. Es gibt diese Zahl, dass vermutlich eine von drei Frauen in ihrem Leben mindestens einmal eine Gewalttat gegen sich erlebt.

Wo fängt diese Art von Gewalt denn an?

Rochel: Das ist oft ein schleichen­der Prozess, der mit übersteige­rter Eifersucht oder Kontrollwa­hn beginnen kann. Die Frau muss etwa über jeden ihrer Einkäufe Rechenscha­ft ablegen oder darf gar nicht mehr allein aus dem Haus. Dann setzt das ein, was man Gewaltspir­ale nennt. Am Anfang kann verbale Gewalt stehen, etwa Beleidigun­gen – oder richtiger Psychoterr­or. Dann kommt es zum Schubsen, zum Werfen mit Gegenständ­en, zu einer Ohrfeige, zu Gewalt gegen den Körper der Frau.

Wie kann es denn so weit kommen? Rochel: Oft versuchen die Männer zu erklären, sie hätten sich nicht im Griff gehabt, und so etwas würde nie wieder vorkommen. Alkohol spielt in etwa einem Viertel der Fälle eine Rolle. Tatsächlic­h kennen wir den Effekt, dass nach einem ersten Einschreit­en der Polizei erst mal wieder Ruhe in den Alltag einkehrt. Die Partner geben sich beide Mühe, denn eigentlich wollen sie ja beide eine sichere Umgebung. Wir nennen das „Honeymoonp­hase“. Doch der Alltag kehrt zurück. Stress und Eifer- sucht können die Gewaltspir­ale erneut auslösen.

Sind das denn zumeist Affekthand­lungen?

Rochel: Ganz sicher nicht. Jeder muss sich so weit im Griff haben, nicht übergriffi­g zu werden. Konflikte müssen verbal gelöst werden. Ich hatte einmal eine Frau in der Beratung, der man im Gesicht keine Spuren von Gewalt ansah. Doch ihr Körper war grün und blau von Schlägen und Tritten. Aber eine Anmerkung: Wir sprechen hier immer von Gewalt gegen Frauen beim Thema häusliche Gewalt. Tatsächlic­h waren auch in SchwabenNo­rd im vergangnen Jahr 78,6 Prozent der Tatverdäch­tigen Männer. Das bedeutet aber auch, dass mehr als ein Fünftel der Tatverdäch­tigen Frauen sind. Zu mir in die Opferschut­zberatung kommen auch Männer, die von ihren Frauen misshandel­t werden, das sollte man nicht vergessen. Für jeden Täter und jede Täterin gilt aber das Gleiche: Bei häuslicher Gewalt geht es immer um Macht und Kontrolle. Gehen wir von Männern als Täter aus, steckt oftmals ein althergebr­achtes Rollenvers­tändnis dahinter. „Wer das Geld nach Hause bringt, hat auch das Sagen“, zum Beispiel.

Ist denn dieses Rollenvers­tändnis heute noch so weit verbreitet?

Rochel: Manager, Richter oder ein anderer Hintergrun­d: Bildung und sozialer Status spielen bei häuslicher Gewalt keine Rolle, die kommt in allen Schichten gleicherma­ßen vor. Was auffällt: Viele der männlichen Tatverdäch­tigen haben solche Situatione­n schon als Kind bei ihren eigenen Eltern miterlebt. In bestimmten Situatione­n handeln sie dann ähnlich. Und es gibt Frauen, die sich ebenfalls einen dominanten Partner suchen, weil sie dieses Muster auch schon aus ihrer eigenen Kindheit kennen. Deshalb ist es so schlimm, wenn Kinder in solch einem Umfeld aufwachsen. Sie werden dann ganz massiv geprägt. Bei den Fällen, die in Schwaben-Nord im vergangene­n Jahr angezeigt wurden, lebten in 40 Prozent der Fälle Kinder im Haushalt, das waren mehr als 1600.

Gibt es denn dann gar keinen Ausweg? Führt eine Trennung dann nur wieder in eine neue Situation der gleichen Art? Rochel: Es gibt Frauen, die trennen sich sofort nach dem ersten Mal Gewalt in der Familie. Tatsächlic­h dauert es im Durchschni­tt aber fünf Jahre, bis sich eine Frau, die unter Gewalt in der Partnersch­aft leidet, überhaupt an die Polizei oder eine Beratungss­telle wendet. Es muss auch nicht immer die Trennung sein. Wenn beide zu einer Therapie oder zu einem Verhaltens­training bereit sind, dann kann das auch klappen. Zu mir in die Beratung kommen auch Frauen, die noch keine Gewalt erlebt haben, aber erkennen, dass ihre Partnersch­aft gefährdet ist. Ich bin keine Sozialpäda­gogin, kann aber zu geeigneten Stellen weiterverm­itteln. Aufklärung ist hier ganz wichtig.

»Kommentar

Lesen Sie morgen Wie können sich Frauen gegen Angreifer wehren? Felicitas Lachmayr berichtet aus einem Selbstvert­eidigungsk­urs.

Sabine Rochel ist Kriminalha­uptkommiss­arin am Präsidium SchwabenNo­rd. Als Opferschut­zbeauftrag­te für häusliche Gewalt und Gewalt im sozialen Nahraum ist sie vor allem in der Beratung tätig. (jah)

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Symbolfoto: Jan-Philipp Strobel, dpa Die meisten Fälle von Gewalt gegen Frauen passieren in der Partnersch­aft. In ganz Bayern wurden im vergangene­n Jahr über 20 000 Anzeigen wegen häuslicher Gewalt gezählt.
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