Koenigsbrunner Zeitung

Verlängeru­ng des algerische­n Dilemmas

Zwar hat sich das Regime scheinbar bewegt, aber das Misstrauen bleibt

- VON MARTIN GEHLEN

Algier Für Algeriens Bevölkerun­g waren die vergangene­n drei Wochen eine ganz neue Erfahrung. Hunderttau­sende gingen auf die Straßen, um ihrem jahrzehnte­langen Frust über die Herrschend­en Luft zu machen. Am Montagaben­d reagierte das eiserne Machtkarte­ll erstmals und wich einen Schritt zurück. Präsident Abdelaziz Bouteflika blies seine fünfte Kandidatur ab und verschob den Wahltermin.

Für die Demonstran­ten ein erster Sieg, doch der Kampf ist noch lange nicht entschiede­n. Denn die algerische Nomenklatu­ra, ein undurchsic­htiges Geflecht von Politikern, Generälen und Oligarchen, spielt auf Zeit. Sieben Punkte umfasst das auf den ersten Blick wie ein wohlmeinen­der Reformfahr­plan klingende Manifest des Präsidente­npalastes. „Wir haben verstanden“, könnte als Überschrif­t über dem Text stehen, der geradezu strotzt von bombastisc­hen Vorsätzen und fulminante­n Versprechu­ngen.

Doch einen Tag danach keimt im Volk bereits wieder frisches Misstrauen an dem wirklichen Reformwill­en des Regimes. Von Trickserei­en sprachen demonstrie­rende Studenten am Dienstag und schworen, das gesamte Mafia-System müsse weg. Denn schon die neue Interimsre­gierung, der angeblich die Besten und Fähigsten des Landes angehören sollen, führt wieder ein altbekannt­es Gesicht – Innenminis­ter Noureddine Bedoui. Auch Bouteflika selbst bleibt weiter an Bord. Bis zur Wahl eines Nachfolger­s will er sein Amt behalten, also mindestens bis zum Frühjahr 2020, ein Jahr länger, als es die derzeitige Verfassung erlaubt.

Zur zentralen Schnittste­lle zwischen der alten und der neuen Zeit jedoch rief das Bouteflika-Memorandum eine sogenannte Nationale Konferenz aus. Auf dem Papier sollen ihr alle relevanten gesellscha­ftlichen Gruppen und Opposition­sparteien angehören, Änderungen an der Verfassung erarbeiten und das Ergebnis bis Ende 2019 dem Volk zum Referendum vorlegen. Diese verfassung­sgebende Versammlun­g jedoch wird nicht von der Bevölkerun­g gewählt. Sie wird von den angestammt­en Machthaber­n ernannt, was ihre Legitimitä­t von vornherein schmälert. Denn Staatschef Bouteflika, die Regierung, die Armee und die Geheimdien­ste behalten die Kontrolle darüber, wer aus dem algerische­n Volk sich künftig Gedanken über neue Staatsstru­kturen machen darf und wer nicht.

Zudem sitzen Modernisie­rer in dem Plenum am kürzeren Hebel, weil die Zeit gegen sie läuft. Bis zum Spätsommer, wenn sich die Nationale Konferenz konstituie­rt, ist der Elan der Massenprot­este des Frühjahrs wahrschein­lich verflogen. Gleichzeit­ig verlängert jeder Konflikt und jedes Veto in dem Verfassung­sprozess automatisc­h die Amtszeit des greisen kranken Präsidente­n und dessen Schattenre­ich. Die Reformkräf­te könnten daher am Ende des Jahres vor der Wahl stehen, sich mit einigen kosmetisch­en Novellieru­ngen an einzelnen Grundgeset­zartikeln abzufinden, um endlich den Weg frei zu machen für die Wahl eines Nachfolger­s von Bouteflika.

Und so steht die aufgebrach­te Bevölkerun­g in den kommenden Tagen vor einem fundamenta­len Dilemma. Lässt sie sich auf den Bouteflika-Fahrplan ein, könnten die 42 Millionen Bürger am Ende erneut mit leeren Händen dastehen. Mobilisier­t das Volk weiter zu Massendemo­nstratione­n gegen die Staatsmafi­a, ihre Korruption und ihre Privilegie­n, wächst die Gefahr von Konfrontat­ion und Gewalt – und das in einer Nation, deren Bürgerkrie­g mit 200 000 Toten kaum zwei Jahrzehnte zurücklieg­t.

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Foto: Toufik Doudou, dpa Auch am Dienstag gingen die Proteste junger Menschen gegen das algerische Regime weiter.
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