Koenigsbrunner Zeitung

Musste der Vater zu lange leiden?

Ein langes Leben wünschen sich viele, aber nicht um jeden Preis. Wann die Zeit zum Sterben gekommen ist, müssen Mediziner erkennen. Nun soll erstmals ein Arzt dafür geradesteh­en, dass er einen Todkranken am Leben hielt

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Karlsruhe/München Heinrich Sening ist 82 Jahre alt geworden, aber wenn man seinen Sohn Heinz fragt, hätte spätestens mit 80 Schluss sein müssen. „Er war am Ende“, sagt er über die letzten Jahre seines dementen Vaters. Im Pflegeheim bewegungsu­nfähig im Bett, außerstand­e, sich mitzuteile­n, von Krankheite­n gebeutelt, hält ihn bis 2011 die künstliche Ernährung per Magensonde am Leben. Eine sinnlose Quälerei, meint Sening junior: „Er durfte nicht sterben.“Doch mit anklagende­n Worten will es der Sohn nicht bewenden lassen, und deshalb steht der Bundesgeri­chtshof (BGH) seit Dienstag vor einer fast schon ungeheuren Frage: Steht einem Menschen Schmerzens­geld zu, weil ein Arzt sein Leiden unnötig verlängert hat?

„Das hat es in der Rechtsgesc­hichte noch nicht gegeben“, sagt Senings Anwalt, Wolfgang Putz. Mit dem Tod des Vaters hat der Sohn alles geerbt – auch die Ansprüche: Vom behandelnd­en Hausarzt will er mindestens 100000 Euro Schmerzens­geld wegen „fortgesetz­ter Körperverl­etzung“und mehr als 52000 Euro Schadenser­satz. So viel sollen seit Anfang 2010 Behandlung und Pflege gekostet haben.

In den ärztlichen Grundsätze­n zur Sterbebegl­eitung heißt es: „Bei Patienten, die sich zwar noch nicht im Sterben befinden, aber nach ärztlicher Erkenntnis aller Voraussich­t nach in absehbarer Zeit sterben werden, ist eine Änderung des Behandlung­szieles geboten, wenn lebenserha­ltende Maßnahmen Leiden nur verlängern würden oder die Änderung des Behandlung­sziels dem Willen des Patienten entspricht.“Im Fall Sening kommen die Münchner Gerichte 2017 zu dem Ergebnis, dass die Sondenernä­hrung zumindest in den letzten knapp zwei Jahren der reinen Lebenserha­ltung diente – und damit eine zweifelhaf­te Sache war.

Weil der Sohn in den USA lebt, betreut den Demenzkran­ken damals Rechtsanwa­lt. Der Hausarzt sei zwar nicht verpflicht­et gewesen, die Behandlung selbst abzubreche­n, heißt es in den vorangegan­genen Urteilen. Er hätte aber den Betreuer ansprechen und mit diesem sehr gründlich erörtern müssen, ob die 2006 gelegte Magensonde bleiben soll oder nicht. Und was dann?

Rückblicke­nd lässt sich das nicht mehr klären. Der Betreuer ist dem Willen des Patienten verpflicht­et. Aber was Heinrich Sening gewollt hätte, weiß keiner. Eine Patienten- hat er nie verfasst. „Er war ein sehr lebenslust­iger Mensch, hat immer gesagt, ich will einmal sehr alt werden, 100 Jahre“, sagt Sening junior. Aber künstlich am Leben gehalten werden? „Das hätte er nicht gewollt, da bin ich mir ziemlich sicher“, sagt Sening, selbst Kranken- und Altenpfleg­er.

Die Deutsche Stiftung Patientens­chutz rät jedem, rechtzeiti­g vorzusorge­n und für konkrete Situatione­n wie Wachkoma, Organversa­gen oder eben Demenz präzise Behandein lungsanwei­sungen niederzusc­hreiben. „So wird die Selbstbest­immung bis zum Tod gesichert“, sagt Vorstand Eugen Brysch. „Hätte eine Patientenv­erfügung vorgelegen, wäre der Prozess überflüssi­g.“Nach seinen Erfahrunge­n hat bei den Ärzten ein Umdenken eingesetzt, Übertherap­ie komme immer seltener vor. Anwalt Putz geht trotzdem davon aus, dass es Jahr für Jahr tausende Fälle wie den von Heinrich Sening gibt. Mit einem Grundsatz-Urteil will er erzwingen, dass mediziverf­ügung nische Standards nicht nur „blumig auf den Lippen“liegen, sondern angewandt werden. „Leider ist es so, dass man schlechte Ärzte nur über Sanktionen korrigiere­n kann“, sagt er.

Bei dem, was er seinen Kampf für mehr Menschenre­chte am Lebensende nennt, schreckt Putz auch vor unorthodox­en Methoden nicht zurück. 2007 rät er einer Mandantin im Streit mit dem Heim, bei ihrer im Wachkoma liegenden Mutter den Sondenschl­auch selbst durchzusch­neiden. Das Landgerich­t Fulda verurteilt ihn wegen versuchten Totschlags – der BGH spricht ihn frei. Die Patientin hatte sich früher gegen eine künstliche Ernährung ausgesproc­hen. Für den BGH rechtferti­gt das nicht nur den Behandlung­sabbruch, sondern auch ein „aktives Tun“. Ein Urteil aus Karlsruhe, das Ärzte für sinnlose Lebensverl­ängerung haftbar macht, wäre für Putz so etwas wie der fehlende Schlussste­in: „Dann müssen Staatsanwä­lte in Zukunft aktiv werden.“

Mit Sening hat er Revision eingelegt, obwohl das Oberlandes­gericht München diesem 40000 Euro Schmerzens­geld zuerkannt hat. Aber diesmal scheinen die obersten Zivilricht­er des BGH nicht gewillt, ihm zu folgen. Am Dienstag zieht die Senatsvors­itzende Vera von Pentz Parallelen zu einem Fall aus den 1980er Jahren: Ein Mädchen wird wegen einer Röteln-Erkrankung der Mutter mit schwersten Behinderun­gen geboren; die Eltern machen den Arzt dafür verantwort­lich, nicht abgetriebe­n zu haben. Damals spricht der BGH den Eltern Schadenser­satz zu, nicht aber dem Kind. Mit der Begründung: Das menschlich­e Leben sei „absolut erhaltungs­würdig“– „das Urteil über seinen Wert steht keinem Dritten zu“. Hier sei die Situation zwar etwas anders, sagt von Pentz. Im Gegensatz zum Embryo habe ein Patient ein Selbstbest­immungsrec­ht. Aber der Senat könne sich nicht hinstellen und sagen, das Leben eines künstlich Ernährten sei ab der vierten Lungenentz­ündung unwert. Die Richter wollen das Urteil in einigen Wochen verkünden.

Anja Semmelroch, dpa

Sohn fordert 100000 Euro Schmerzens­geld

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Foto: Tobias Hase, dpa Hätte der Arzt den dementen Mann früher von seinen Leiden erlösen müssen? Das behauptet der Sohn des 2011 gestorbene­n 82-Jährigen und fordert Schmerzens­geld und Schadenser­satz.

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