Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (72)
Das blutlose Gesicht des Vorstehers rötet sich schwach, es ist die Erinnerung an das betrübende Vorkommnis, an die Schande, in die es einen bringt, das schlechte Ansehen bei den Herren der Vollzugsbehörde und schließlich der Gedanke, daß man keinen Tag vor der Wiederholung sicher sein kann. Es gibt nur eines, das noch schlimmer ist und in den Folgen unheilvoller, die offene Revolte. Auch das hat man gehabt. Es scheint unvermeidlich. Nach zwei, drei Monaten friedlichen Auskommens ballt sich regelmäßig eine Katastrophe zusammen. Man tut für die Leute, was irgend möglich ist, sie haben ihre ordentliche Kost, ihre bemessene Schlafzeit, ihren Gottesdienst, ihre Erholungsruhe, man geht anständig mit ihnen um, verschafft ihnen Erleichterungen, wo es nur angeht, und doch, sie haben keine Einsicht, sie lassen nicht ab von Verschwörungen und strafbaren Verständigungen. Das alles malt sich in den Zügen des jungen Vorstehers, während er die Geschichte
des letzten Ausbruchskomplotts erzählt, eine reizlose und trübselige Geschichte, die nur dadurch einige Verwunderung verdient, daß es den Leuten, es waren die vom Schlafsaal zwölf, in zwei Nachtstunden gelungen ist, die fünfundsiebzig Zentimeter dicke Mauer geräuschlos zu durchbrechen, ein Loch herzustellen, durch das sie bequem schlüpfen konnten, und sich an Bastseilen, die sie aus den Arbeitssälen nach und nach entwendet und im Schlafsaal versteckt hatten, unbegreiflich wie und wo, aus einer Höhe von dreiundzwanzig Meter herunterzulassen, fünf Mann. „Es war sinnlos, es war aussichtslos“, sagt der Vorsteher mit seiner leisen traurigen Stimme und niedergeschlagenen Augen, „denn dort hatten sie ja wiederum dreißig Meter Kletterei vor sich, und dazu waren die Seile nicht lang genug, sie hätten die letzten fünf Meter springen müssen. Einfach toll.“
Und sonst? erkundigt sich Herr von Andergast vorsichtig, wie um die Empfindlichkeit des Mannes zu schonen. Soviel er wisse, seien ein paar schwierige Leute hier. Ja, gewiß, gab Pauli resigniert zu. Da sei vor allem Hiß, der Mörder des Gendarmeriewachtmeisters Jänisch, der Herr Baron werde sich ja entsinnen, nächtlicher Überfall auf der Straße. Mit dem habe man seine Not, der Mann sei auf keine Art zu bändigen und ans Reglement zu gewöhnen, man habe ihn nun sechs Wochen im Hause, und jeden Tag melde er sich zu einer grundlosen Beschwerde, sei drei Monate in Dietz gewesen, dort habe er Bittschriften über Bittschriften eingereicht, er wolle weg, halte es nicht aus, bis man ihn endlich nach Kressa verbracht, und nun wolle er um jeden Preis wieder nach Dietz zurück. Er sei von einer krankhaften Arbeitsscheu beseelt, sein einziges Verlangen sei, zu schreiben, seine Lebensgeschichte wolle er niederschreiben und damit zugleich den Beweis seiner Unschuld liefern, nämlich daß er keinen Mord begangen, sondern durch die Brutalität seines Vaters, eines unheilbaren Säufers, von dem er ja auch im Suff gezeugt worden, ins äußerste Elend geraten sei und den Wachtmeister damals in der Winternacht nur um Zigaretten angebettelt, worauf der eine Bewegung in die Tasche nach seinem Revolver gemacht, da habe er, Hiß, aus Angst, erschossen zu werden, selber geschossen. Das könne man doch nicht Mord nennen, dafür könne man nicht lebenslänglich eingesperrt werden, es sei Notwehr gewesen, nichts anderes. Leider habe sich ein Aschaffenburger Rechtsanwalt gefunden, fuhr Pauli kopfschüttelnd fort, der sich der Sache dieses Lügners und Heuchlers als einer gerechten Sache angenommen und seitdem immerfort um Konferenzen mit seinem Klienten nachsuche und das Gericht mit Wiederaufnahmeanträgen überschwemme. „Sie werden ihn ja sehen, Herr Baron“, schloß der Vorsteher. „Wir haben ihm vor drei Tagen die Einzelzelle bewilligt, um die er gebeten hat, damit er schreiben könne, er hat Papier, Feder und Tinte erhalten, aber bis zur jetzigen Stunde hat er nicht eine Silbe geschrieben. So einer ist das.“Er sandte einen Blick zu dem Schreiber hinüber, der verstand sogleich, zog ein blaues Heft aus einer Lade und reichte es Pauli. Auf dem ovalen Schild war zu lesen: Meine Jugenderinnerungen. „Das hat er in Dietz verfaßt“, sagte der Vorsteher und gab Herrn von Andergast das Heft, der es aufschlug und eine Weile darin blätterte. Die eiligen gewandten Schriftzüge ließen auf einen Handelsangestellten schließen, im Stil wechselte eine unleidliche, tränenselige Geschwollenheit mit prahlerischer Selbstbewunderung, jedes dritte Wort enthielt einen orthographischen oder grammatikalischen Fehler, dabei herrschte erstaunliche Genauigkeit in einer Fülle nicht uninteressanter Details. „Ja, sie nehmen es sehr ernst mit ihrer eigenen Person und sehr nonchalant mit uns andern“, sagte Herr von Andergast, indem er das Heft weglegte und sich erhob. „Ich möchte, Herr Vorsteher, einen Gang durch die Anstalt machen und nachmittags um drei Uhr den Sträfling Maurizius zu einem Gespräch unter vier Augen aufsuchen.“Pauli verbeugte sich und läutete nach dem Inspektor. „Wie hält sich der Mann?“fragte Herr von Andergast im Ton der Beiläufigkeit, die rechte Hand schon an der Türklinke. Pauli lächelte mit emporgezogenen Brauen. „Oh“, antwortete er, „wenn alle so wären, Herr Baron. Da hätten wir ein leichtes Leben.“Der Inspektor, ein wohlgenährter Greis mit freundlichem, gescheitem Gesicht trat ein. Ein eisernes Gitter wird aufgesperrt, man gelangt in einen düstern Hof, den die himmelhohen Mauern des Gebäudes umgrenzen. Der Inspektor geht voran, ihm folgen Herr von Andergast und der Vorsteher, den Schluß bilden zwei Aufseher in ihren Uniformen. Der Hof ist sauber gekehrt, überall macht sich eine Ordnung bemerkbar, die vielleicht nicht die alltägliche ist. Herr von Andergast weiß natürlich, was es mit solch angekündigtem Besuch auf sich hat, da ist alles, was Arme und Beine hat, zuvor in Tätigkeit versetzt worden, damit man sich keinen Rüffel zuziehe, und wo etwas faul ist, hofft man mit dem Hinweis auf eingerissene Gewöhnung oder nicht bewilligte Mittel auf Nachsicht. Aber er weiß auch, die Leute sind pflichttreu und obliegen ihrem harten Beruf mit Verständnis und Geduld. Es ist nicht mehr wie in früheren Zeiten, die allerdings gar lang noch nicht vorbei sind, wo die Strafhäuser verrufene Höllen waren, von deren Schrecklichkeit das Volk nur ängstlich zu raunen wagte, ihre Direktoren verantwortungslose Tyrannen, ihre Wärter Folterknechte. Man lebt in einem Kulturstaat, und der Strafvollzug wird nach humanen, es steht zu befürchten, manchmal nur allzu humanen Grundsätzen gehandhabt. Kressa genießt zudem in dieser Beziehung einen besonders guten Ruf. Doch um eine der üblichen Revisionen vorzunehmen, ist er nicht gekommen. Er hat sich eines offiziellen Vorwands bedient, um den eigentlichen Zweck möglichst unscheinbar zu machen. Er wünscht nicht, daß es heiße, der Oberstaatsanwalt ist bei Leonhart Maurizius gewesen, offenbar nimmt er sich der Sache an, es ist etwas im Zuge. Er wünscht kein Gerede.