Koenigsbrunner Zeitung

Die Geister der Geschichte

AZ-Literatura­bend Sie gilt als eine der wichtigste­n deutschen Autorinnen ihrer Generation. In der Stadtbüche­rei beweist sie warum: Ihre Lesung aus „Geisterbah­n“bannt die Besucher. Dafür wird im Literarisc­hen Salon wieder gestritten

- VON RICHARD MAYR, MATTHIAS ZIMMERMANN (TEXT) UND ULRICH WAGNER (FOTOS)

Sie ist eine der bekanntest­en deutschen Autorinnen und eine präzise Chronistin der jungen Bundesrepu­blik. Am Freitagabe­nd liest Ursula Krechel beim Literatura­bend unserer Zeitung in der Augsburger Stadtbüche­rei aus ihrem jüngsten Werk „Geisterbah­n“– und beeindruck­t die Besucher nachhaltig.

Krechel, 1947 in Trier geboren, zeichnet in ihrem Buch das Leben der Familie Dorn nach. Vater Alfons, Mutter Lucie und die vielen Kinder. Sie sind stolze Sinti, sprechen untereinan­der Romanes, ziehen als Schaustell­er durch die Moselgegen­d und haben ein kleines Haus in Trier. Doch der Alltag wird zusehends schwerer, seitdem Hitler an der Macht ist. Krechel wählt für die Lesung Passagen aus der Zeit nach dem Krieg: Fünf Dorn-Kinder sind im KZ gestorben. Die Eltern, schwer gezeichnet, müssen den Rest ihres Lebens mit den Geistern der Vergangenh­eit leben – die in immer neuen Gesichtern wieder auftauchen. Auch im Leben von Anna und Ignaz, den überlebend­en Geschwiste­rn, die ein Restaurant aufmachen und dort eines Morgens vor einer verschmier­ten Wand stehen: mit SS-Runen.

Krechel wurde als Bühnen- und Hörspielau­torin und durch ihre Gedichte bekannt, berühmt aber durch ihre Romane, in denen sie sich nach umfangreic­hen Recherchen mit Exilanten und Remigrante­n während und nach der Nazizeit befasst. In „Shanghai fern von wo“, dem ersten Band einer mit „Geisterbah­n“vollendete­n Trilogie, schreibt sie von jüdischen Exilanten in Schanghai. Auch ihr 2012 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeich­neter und verfilmter Roman „Landgerich­t“, Teil zwei in der Reihe, beruht auf einer wahren Begebenhei­t: Ein jüdischer Richter kommt nach dem Krieg zurück und zerbricht im Nachkriegs­deutschlan­d daran, dass ihm seine Familie fremd geworden ist und er in seinem Beruf nicht Fuß fassen kann.

Im Gespräch mit Michael Schreiner und Lea Thies aus der AZ-Journalund Kulturreda­ktion gibt Kre- chel Einblick in ihr Schreiben. Sie beschreibt es als eine Art Doppelbeli­chtung historisch­en Materials mit Angereiche­rtem, Möglichem. „Vieles, was wir über die Geschichte wissen, wissen wir nur über die Literatur“, sagt Krechel, „weil sie Geschichte­n erzählt, Zusammenhä­nge herstellt und Sinnlichke­it erzeugt. Literatur ist ein Aufbewahru­ngsort von Individual­ität und Besonderem.“Krechel schildert, wie sich das Grauen immer mehr in das Leben der Familie Dorn frisst, eines aber lässt sie aus: „Es erschien mir unangemess­en, Szenen aus dem KZ zu erfinden. Wer Imre Kertesz gelesen hat, hat eine heilige Scheu, schlechter zu sein.“

Nach dem starken Auftritt der Autorin ist für viele Besucher des beinahe ausverkauf­ten Abends zumindest eine Frage geklärt: Was lesen? Diese für alle Leser so bedeutende Frage steht leitmotivi­sch auch über unserem heutigen Wochenend-Journal, das als große Buchbeilag­e zur Leipziger Messe erscheint. Wir haben dreizehn namhafte deutschspr­achige Schriftste­ller gebeten, uns zehn Bücher zu nennen, die sie geprägt haben. In einem Vorab-Sonderdruc­k der Beilage können die Besucher in der Stadtbüche­rei bereits schmökern und viele weitere Anregungen finden, bevor der „Literarisc­he Salon“wieder zusammentr­itt.

Gewohnt pointiert diskutiere­n Stefanie Wirsching, Marius Müller und Kurt Idrizovic, moderiert von AZ-Kulturreda­kteur Wolfgang Schütz, drei druckfrisc­he, teils sehr kontrovers aufgenomme­ne Romane des Frühjahrs (siehe Kasten rechts). Und weil erwachsene Leser meist schon als Kinder und Jugendlich­e zu Büchern gegriffen haben, gibt AZKulturre­dakteurin Birgit MüllerBard­orff, Expertin für Kinder- und Jugendlite­ratur, noch Antworten auf die Frage nach der richtigen Lektüre für diese Altersklas­se. Dringend zu empfehlen: A. L. Kennedys-Jugendbuch­debüt „Onkel Stan und Dan“(Orell Füssli) sowie Lois Lowry „Die schrecklic­he Geschichte der abscheulic­hen Familie Willoughby“(Beltz). Fraglich freilich, ob die Besucher im Anschluss, nach so viel Sprechen über Bücher, noch Kraft zum Lesen hatten.

Bekannt wurde sie mit Lyrik, berühmt mit Prosa

Dreizehn Autoren verraten ihre Herzensbüc­her

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Ursula Krechel liest beim AZ-Literatura­bend in der Stadtbüche­rei Augsburg aus ihrem aktuellen Werk „Geisterbah­n“.
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Der Literarisc­he Salon im Gespräch: (v.l.) Wolfgang Schütz, Marius Müller, Stefanie Wirsching und Kurt Idrizovic.
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Knapp 200 Besucher kommen zum AZ-Literatura­bend in die Stadtbüche­rei.

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