Gedankenstrom am Euphrat
Kenah Cusanit Babel Berlin – ein eigensinniger Roman über den Archäologen Robert Koldewey
Ein Mann leidet unter einer Blinddarmentzündung. Er fühlt sich elend, hat sich nach anstrengenden Verhandlungen am Vormittag im Arbeitszimmer hingelegt, liest Briefe, sinniert, verliert sich in Gedanken. Viel mehr passiert nicht in diesem Roman. Irgendwann, im Laufe dieses heißen Tages im Jahr 1913, wird er die Liege verlassen, das Rizinusöl scheint geholfen zu haben, und durch die Hitze einer Frau entgegengehen… Das alles liest sich manchmal verwirrend, manchmal wissensschwer, dann wieder brüllend komisch und flirrend leicht und ist im Übrigen auch noch ein Roman-Debüt! Als solches aber gleich nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse.
In die Zeit des großen Grabens führt die Alt-Orientalistin Kenah Cusanit in ihrem so grandios gelungenen „Babel“, als die europäischen Archäologen sich vor über hundert Jahren im zerfallenden Osmanischen Reich eine Art Wettrennen liefern: Die Franzosen graben in Susa, die Engländer haben Ninive. Nun wünscht sich auch der archäologievernarrte und orientverliebte Kaiser in Berlin Artefakte für die Museen auf der Spreeinsel und steuert aus der Privatschatulle etwas für das ehrgeizigste Projekt der Deutschen Orient-Gesellschaft bei: Der Archäologe Robert Koldewey soll am Ufer des Euphrat, etwa 80 Kilometer von Bagdad entfernt, das Fundament des Abendlandes freilegen – das mythenbeladene Babylon. Von einer ersten Erkundungsreise hat er bereits einige blau glasierte Reliefbruchstücke mitgebracht. In Berlin erwartet man nun Großes!
Koldewey, das ist der kranke Mann. Der vormittags mit den lokalen Scheichs verhandelt hat. Der an seinem Mitarbeiter Buddensieg verzweifelt. Darüber nachdenkt, was er bei Kriegsausbruch mitnehmen würde, Notizbücher, Fotografien, keinen Fund, nur die „angefertigten Verzeichnisse ihrer Existenz“. An sich selbst mithilfe eines Medizinlehrbuchs herumdoktert. Sich durch seine Post arbeitet. Von seinem Kollegen Jordan, der in Uruk gräbt, zum Beispiel im Brief erfährt: „Wir wurden zum Spatenstich der Bagdadbahn eingeladen, hatten aber keine Lust, deswegen nach Bagdad zu fahren, zumal der Brief mit der Einladung 14 Tage nach dem Spatenstich eintraf.“Und immer wieder finden sich im Briefwust diese fordenden Schreiben von der Generalverwaltung der königlichen Museen in Berlin: Man benötige mehr Reliefziegel, Koldewey solle bitte ein neues Grabungsprogramm vorlegen und über den neuesten Stand informieren. In Schrift verwandelte Ungeduld, befeuert durch die spektakulären Erfolge, die das Grabungsteam erzielt hat: Im Hof stapeln sich hunderte Kisten, die per Karawane nach Berlin transportiert werden sollen, um dort im Museum
„Ein überwachsener Schutthaufen“
das Ischartor auferstehen zu lassen, die Fassade des Thronsaales… Als Koldewey sich der Stadt 1899 nähert, sieht er nicht mehr als einen „überwachsener Schutthaufen“. 14 Jahre später ist daraus ein Labyrinth geworden, ausgegraben nun auch das Fundament des Turmes. Dort, wo an diesem Tag die legendäre englische Forschungsreisende Gertrude Bell auf ihn wartet …
Cusanit, Berlinerin wie Koldewey zum Badezimmer schließt sich, er ist allein. Von der Decke beginnt Öl auf seine Stirn zu tropfen, es rinnt in Schlieren die Kalkwände herunter, überzieht den Holzboden, das Bett, die Laken, alles wird glatt und verliert seine Struktur. Das Zimmer läuft voll, das Öl schwappt in sein Gesicht...Er atmet es ein, wird taub, und dann ist er selbst das blauschwarze Öl.“
Das ist im neuen Band eine der eindringlichsten Passagen, eine literarische Trouvaille in all den Schilderungen, Beobachtungen, Begegnungen. Sechs der 48 Abschnitte sind vorab erschienen und wurden für das Buch überarbeitet.
Vielleicht muss man die Fans des Autors warnen, die sich von den Fall- und Kriminalgeschichten in Ferdinand von Schirachs Büchern wie „Verbrechen“(2009), „Schuld“(2010) und „Strafe“(2018) mitreißen ließen. In ihnen schleuste der Autor die große Unbekannte ins und wie er in Blankenburg im Harz aufgewachsen, erzählt nicht chronologisch, sondern folgt dem irrlichternden Gedankenstrom des Universalgelehrten. Und verfährt im Grunde wie Koldewey, also wie eine Archäologin, die sich durch die Geschichte gräbt, Ideen, Gedanken, Marotten und Anekdoten wie kostbare Fundstücke zutagefördert. Das Entscheidende aber: Wie sie diese Fundstücke zu einem so eigensinnigen und herausfordenden Roman voller Gelehrsamkeit und Witz zusammenfügt. So gar nicht staubtrocken! Der Babel-Bibel-Streit, angefacht durch den Assyriologen Friedrich Delitzsch mit seiner These, die Schreiber des Alten Testaments hätten sich bei den Babyloniern bedient, erzählt sie als Slapstickszene: Da ereifert sich Delitzsch erst auf dem Pferd, dann im Boot, umgeben von Sumpf. Berliner Architekturgeschichte, auch die wird beiläufig erzählt. Beim Heimatbesuch Koldeweys findet der sich kaum zurecht in „Elektropolis“. Die neue Metropole an der Spree ist im ständigen Umbau wie einst die alte am Euphrat.
Was Kenah Cusanit, die bereits zwei Lyrikbände veröffentlicht hat, ihren Robert Koldewey ahnen lässt: „Sehr wahrscheinlich würde also jemand auch ihr Leben irgendwann ausgraben und genauso unvollständig und zusammengereimt wiedergeben wie das, was sie in den Archiven der orientalischen Geschichte vorgefunden und notiert hatten.“Eine sorgsamere Ausgräberin als Cusanit aber hätte er sich nicht wünschen können. Stefanie Wirsching Menschenleben, zersetzte mit pointierter Wucht die Differenz von Grund und Abgrund, von Gut und Böse. Der von Ferdinand von Schirach bewunderte Künstler Anselm Kiefer rühmt die „kristalline Kälte“dieser Texte.
Das ist in „Kaffee und Zigaretten“anders, persönlicher, moderierter, beiläufiger, bildungsbeflissener (in der Zitierung von Geistesgrößen), bescheidener im Aufklärungsimpetus. Zum Teil beruhigen sich die Geschichten in moralischen Gemeinnützigkeiten: „Niemand kann sich selbst kennen“; „… kann es nie Gewissheit geben. Indem man etwas betrachtet, verändert man es“; „Hass ist die furchtbarste, die einfältigste und die gefährlichste Haltung zur Welt.“
(Historische) Mordfälle sind auch diesmal aufgeführt. Der Blick fällt in Ehehöllen, auf reiche Mandanten, die Tragik einer japanischen Klavierstudentin und jenen absonderlichen Herrn, der sich Tat für Tag eine halbe Stunde vor das Schaufenster eines Friseurgeschäfts stellt.
Es geht im Weiteren um jugendbewegte Jahre in Paris, eine groteske Modenschau, um die RaucherFraktion (von Belmondo bis Helmut Schmidt und den Autor), um kuriose Begegnungen mit Nobelpreisträger Imre Kertész, dem Romancier und Tennisexperten Lars Gustafsson, mit dem geldwedelnden Mick Jagger im Kino, vor allem aber den Filmen des Ausnahme-Regisseurs Michael Haneke: Kunst, sagt von Schirach, „muss kompromisslos sein, und ich kenne keinen anderen Künstler, der weniger Kompromisse macht“.
Ferdinand von Schirach, Jahrgang 1964, ist ein sympathischer Autor. Er desavouiert nicht. Er ist auf Such- und Pendelbewegungen aus in einer Menschenwelt, von der er weiß, dass sie schwerlich ins Lot zu bringen ist. Günter Ott