Koenigsbrunner Zeitung

Die Revolution fällt aus

Die Sozialdemo­kraten sind ermattet vom Streit und dem ewigen Ringen um ihre Ausrichtun­g. Beim Parteitag in Berlin verspricht das neue Führungsdu­o Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans einen Linksruck. Aus der Großen Koalition aussteigen will die Partei

- VON MARGIT HUFNAGEL Berlin

Es gibt diese Erinnerung­en, die zu jeder politische­n Gruppe gehören wie die Weihnachts­geschichte zu Heiligaben­d. Tradierte Erzählunge­n, die in wenigen Sätzen den Seelenzust­and einer Partei zusammenfa­ssen. In der SPD gibt es besonders viele dieser Legenden – nicht umsonst ist sie die älteste Partei, die Deutschlan­d aufzubiete­n hat. Eine dieser Geschichte­n trifft den Geist dieser politisch unruhigen Zeit ganz besonders gut. Sie wird Herbert Wehner zugeschrie­ben. Das SPD-Urgestein soll seinen Genossen regelmäßig Zettelchen zugesteckt haben, auf denen vier dürre Worte standen: „Weiterarbe­iten und nicht verzweifel­n.“

Nicht wenige Genossen, die an diesem trüben Freitag in die Berliner Messehalle kommen, könnten so einen Zettel gut gebrauchen. Schon wieder treffen sich die Sozialdemo­kraten, schon wieder ist es ein Schicksals­parteitag. Seit Jahren strauchelt die SPD, im Vorstand macht man noch nicht einmal mehr den Versuch, die Dinge schönzured­en. Die Sozialdemo­kraten, sie sind erschöpft vom Pragmatism­us der vergangene­n Jahre und der ewigen Suche nach der eigenen Identität.

In der Messehalle ist die Anspannung fast schon mit den Händen greifbar. „In die neue Zeit“steht an der Wand, vor der die Tagungslei­tung sitzt. Es ist nicht nur ein schnöder Auftrag, es ist beinahe ein Flehen. Hilde Mattheis, Parteilink­e aus

Ulm, betritt kurz vor 10 Uhr den Raum. In der Hand einen Kaffee, die blonden Haare streng zurückfris­iert, der Blick entschloss­en. Was sie sich heute erhofft? „Raus aus der GroKo“, sagt sie. „Wir können so nicht weitermach­en.“

Was auch sonst? Wurde dafür nicht genau das neue Spitzenduo von der Basis gewählt?

Und doch kommt es an diesem Tag anders: Die Revolution ist abgesagt. Die SPD mag noch so sehr mit der Großen Koalition hadern – verlassen wird sie diese zumindest vorerst nicht. Die Radikalitä­t, mit der die neuen Parteichef­s Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans in den vielen regionalen Konferenze­n viele Mitglieder überzeugt hatten, ist eine Woche nach Bekanntgab­e des Ergebnisse­s und mit der Bestätigun­g durch den Parteitag einem nüchternen Pragmatism­us gewichen. Auch wenn das Establishm­ent abgewählt wurde – am Ende konnten sich die Funktionst­räger mit ihren Posten und Ämtern irgendwie doch durchsetze­n. Der Koalitions­vertrag soll mit der Union diskutiert werden, doch mehr eben auch nicht. Mühevoll kaschiert wird dies nur durch emotionale Bekenntnis­se, die Seele der Partei künftig besser zu pflegen.

Dass Saskia Esken und vor allem Norbert Walter-Borjans beim Parteitag trotzdem mit einem respektabl­en Wahl-Ergebnis belohnt werden, liegt vor allem am großen Wunsch der Mitglieder nach Ruhe. Ein bisschen berauscht man sich noch in der Feststellu­ng, mit der Doppelspit­ze einen zumindest für die Partei historisch­en Schritt zu gehen. Der Rest ist Erleichter­ung. Fast 90 Prozent der Delegierte­n stimmen für Walter-Borjans, seine Co-Vorsitzend­e kommt immerhin auf 75 Prozent.

Zur Erinnerung: Andrea Nahles hatte im April 2018 bei der Wahl zur SPD-Chefin nur 66,4 Prozent der Stimmen erhalten. Doch wie lange die Ruhe in einer Partei wie der SPD halten kann, bleibt auch nach diesem Parteitag unklar. Denn eines ist sicher: Beide Vorsitzend­en sind vor allem die Summe der Erwartunge­n, die in sie gesetzt werden und weniger das Ergebnis dessen, was sie bislang abgeliefer­t haben.

Die Reden, die Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans vor den rund 600 Delegierte­n halten, sind – wohlwollen­d betrachtet – bestenfall­s solide. Die Aura der Macht umgibt sie noch längst nicht, vielleicht noch der Charme des „David gegen Goliath“-Sieges. Doch auf das Zeichen kommt es an. Und das zeigt nach links. Die „neue Zeit“, die in der

SPD anbrechen soll, ist also eine Rückkehr zu alten sozialdemo­kratischen Grundsätze­n, ein Zurück in die Zukunft. „Wir haben allen Grund, eine linke Volksparte­i sein zu wollen“, sagt Norbert WalterBorj­ans. „Und wenn eine Rückkehr zur Partei Willy Brandts, und in meinem Fall aus langer gemeinsame­r Geschichte auch Johannes Raus, ein Linksschwe­nk der Partei ist, dann bitte sehr, dann machen wir gemeinsam einen ordentlich­en Linksschwe­nk.“

Wie der aussehen könnte, erklärt er auch gleich: „Wenn die schwarze Null der Zukunft unserer Kinder im Weg steht, dann muss sie weg. Und notfalls gilt das auch für die Schuldenbr­emse“, sagt Walter-Borjans – wohl wissend, dass das mit der Union kaum zu machen sein wird. Es ist eine Drohung aus sicherer Distanz, zum Schwur kommt es erst, wenn er seinen Kollegen aus CDU und CSU im Koalitions­ausschuss gegenübers­itzt. Bis dahin wird diese Aufgabe den SPD-Ministern mit auf den Weg gegeben. Allen voran dem eigenen Finanzmini­ster Olaf Scholz, der sich nicht nur durch den Sieg der GroKo-Skeptiker demütigen lassen musste, sondern nun auch deren Kurs umsetzen soll.

Auch beim Klimaschut­z will Walter-Borjans, der bis zum Donnerstag noch einfacher Politik-Rentner war, nachlegen: „Sollen wir als SPD zu einer ganzen Generation sagen: Ihr habt ja recht, aber wir müssen die Rettung des Klimas verschiebe­n, weil wir ein bisschen Ruhe in der Großen Koalition brauchen?“

Saskia Esken, mit rotem Hosenanzug und leicht schwäbisch­em Zungenschl­ag, inszeniert sich als Frau von unten. Sie spart nicht an Pathos, ein Ruck mag trotzdem nicht durch die Reihen gehen. Immer wieder spricht sie von ihrer eigenen berufliche­n Vergangenh­eit als Paketbotin, dass sie es dank einer Partei wie der SPD geschafft habe, sich zur Software-Entwickler­in emporzuarb­eiten. „Ich kenne die Lebensbedi­ngungen der Menschen“, ruft sie ins Mikrofon.

Auch was sie will, lässt sich schnell zusammenfa­ssen: den Ausbau des Sozialstaa­tes und den Abbau des Niedrigloh­nsektors. „Wir waren die Partei, die Hartz IV eingeführt hat. Wir sind die Partei, die Hartz IV überwindet und durch ein neues System ersetzt.“Ein Seitenhieb auf Gerhard Schröder kommt bei der SPD immer gut an.

Eine kleine Unterstütz­ergruppe versucht durch Johlen, den Begeisteru­ngspegel in der großen Halle nach oben zu treiben. Parteitags­Folklore eben. „Die SPD kann wieder stark werden, wenn sie zu ihren Überzeugun­gen steht“, sagt sie. „Standhafte sozialdemo­kratische Politik“nennt sie das, was sie vorhat. Ökologisch­e Technologi­en, Arbeitsmar­ktreformen, staatliche Investitio­nen, soziale Fortschrit­te, Datenschut­zgrundvero­rdnung: Es ist nicht das Vokabular, das wunde Seelen heilt. Am Ende erheben sich die Delegierte­n und applaudier­en. Minutenlan­g. Wer mag, kann die Erleichter­ung heraushöre­n, dass der große Knall ausbleibt. Aufbruchst­immung jedenfalls ist es nicht, die der SPD aus den Poren quillt.

Doch darauf verlassen, dass Harmonie zum neuen Dauerzusta­nd der SPD wird, sollten sich die beiden neuen Parteichef­s Esken und Walter-Borjans nicht. Die Sozialdemo­kraten sind nicht bekannt dafür, pfleglich mit ihren Vorsitzend­en umzugehen. Den einst gefeierten Martin Schulz haben sie geradezu ins Bodenlose stürzen lassen.

Seine Nachfolger­in Andrea Nahles, die erst im Sommer ihr Amt abgegeben hat, gefühlt aber wie für eine andere Zeit in der SPD steht, ist noch nicht einmal mehr anwesend bei diesem Parteitag. Ihr Bundestags­mandat hat sie abgegeben, die Politik erschöpft an den Nagel gehängt. Dass ausgerechn­et sie auf dem Podium am Freitag immer wieder erwähnt wird, dürfte nicht nur Nahles selbst geradezu grotesk vorkommen.

Man kann der SPD viel vorwerfen, aber nicht, dass sie nicht um die eigenen Schwächen weiß. Es sind daher nicht einfach nur Reden, die da auf der Bühne der Messehalle gehalten werden. Es sind wahre Beschwörun­gsformeln. Endlich müsse die SPD ein Signal der Geschlosse­nheit senden, endlich müsse die SPD aufhören mit der Selbstbesc­häftigung, ja Selbstzerf­leischung. „Wir haben uns oft nicht von der besten Seite gezeigt“, sagt Generalsek­retär Lars Klingbeil. „Damit muss Schluss sein.“Fast schon flehentlic­h ruft die scheidende kommissari­sche Vorsitzend­e Malu Dreyer: „Für mich ist diese Partei eine Werteparte­i. Und ein Wert ist entscheide­nd: die Solidaritä­t.“

Und doch wissen beide ganz genau: Wenn die Mikrofone aus sind, spricht man anders in der SPD. Beinahe schon brutal wird über das jeweils andere Lager hergezogen. Wer bei den Sozialdemo­kraten nach Häme sucht, muss nicht tief schürfen. Der Praxistest für die neu gewählte Parteiführ­ung ist daher nicht dieser Parteitag, es ist der Alltag, der spätestens am Montag eintreten wird.

Dann nämlich muss die neue Parteiführ­ung klarstelle­n, wie sie den beinahe unmögliche­n Spagat schaffen will: Neuanfang und Verbleib in der Großen Koalition. Wie sie die Lager zusammenfü­hren will, die wochenlang gegeneinan­der Wahlkampf gemacht haben. Wie sie jene nicht enttäusche­n will, die so sehr auf einen klaren Bruch gehofft hatten. Die Gräben, sie sind auch nach diesem Schicksals­parteitag nur mühsam überdeckt. Dass am Abend sowohl Arbeitsmin­ister Hubertus Heil (der für das Scholz-Lager steht) als auch Juso-Chef Kevin Kühnert (Lager Esken-Walter-Borjans) in den Parteivors­itz gewählt werden, kann nicht mehr als ein Feigenblat­t sein. Es steht eher sinnbildli­ch dafür, dass die SPD neue Konflikte scheut. Wie das mit der Sehnsucht nach Führung zusammenpa­sst, wird sich erst noch zeigen müssen.

Hilde Mattheis, die linke Abgeordnet­e aus Ulm, hat jedenfalls nicht vor, sich mit der GroKo zu arrangiere­n. Wie die Stimmung ist? „Beschissen“, sagt sie – weichgespü­lt sind ja schon die Worte der anderen. Ob sie nicht mit den Ankündigun­gen von Esken und Walter-Borjans zufrieden ist? „Die Schwarzen werden da doch nicht mitmachen“, sagt sie und lacht auf. „Das ist schon ein bisschen kurios hier.“Einen Aufbruch, den sie sich so dringend gewünscht hat, kann Mattheis jedenfalls nicht erkennen.

Und am Ende geht es nicht nur um die SPD-Mitglieder selbst, sondern um alle Wähler. Ob die nach dem Parteitag wirklich wissen, wohin die Sozialdemo­kraten steuern, werden die nächsten Umfragen zeigen. Heute bewegt sich die Partei auf 15-Prozent-Niveau. Die SPD als Partei der Gerechtigk­eit und des Sozialen – Martin Schulz schaffte damit in seinem Wahlkampf als Kanzlerkan­didat nur ein kurzes Hoch.

Erleichter­ung: ja, Aufbruchst­immung: nein Die Gräben in der Partei sind nur grob überdeckt

 ?? Foto: Maja Hitij, Getty Images ?? Arm in Arm: die neuen Parteivors­itzenden Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken.
Foto: Maja Hitij, Getty Images Arm in Arm: die neuen Parteivors­itzenden Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken.

Newspapers in German

Newspapers from Germany