Koenigsbrunner Zeitung

Er will seine Lebensrett­er-Medaille nicht

Ein Mann stirbt bei einem tragischen Kanu-Unfall. Seine Tochter wird gerettet. Von Jürgen Müller. Er wird für seine Hilfe geehrt. Warum er diese Auszeichnu­ng ablehnt

- VON DANIELA HUNGBAUR

Augsburg Wie schnell die Kräfte schwinden, was für eine ungeheure Anstrengun­g jede weitere Bewegung erfordert, wie verzweifel­t man kämpft, wenn es darum geht, nicht zu ertrinken, das weiß Jürgen Müller. Es ist das Jahr 2006. Im April. Ein schöner Ausflug soll es werden. Familien und Kinder im Konfirmati­onsalter aus Müllers Heimat im fränkische­n Landkreis ErlangenHö­chstadt fahren in den Bayerische­n Wald. An den Fluss Regen. Zum Kanufahren. Zu dritt sitzen sie in dem Boot. Vater, Tochter und Jürgen Müller. Unter einer Brücke geraten sie plötzlich in einen Strudel. Kehrwasser. Das Kanu kentert. Die drei befinden sich von einer Minute auf die andere in eiskaltem Wasser, weit weg vom Ufer. „Ich habe dem Vater noch zugerufen, dass ich mich um seine Tochter kümmere.“Müller rettet sich und das Mädchen ans Ufer. Dem Vater gelingt dies nicht. Er stirbt.

Eine Katastroph­e, über die Jürgen Müller eigentlich nicht mehr sprechen will. Vor allem, um die Familie des verunglück­ten Vaters zu schützen. Um nicht immer wieder die grauenhaft­en Erlebnisse dieses Tages aufzufrisc­hen. Als Müller ein Jahr nach dem furchtbare­n Unfall die Einladung zur Ehrung als Lebensrett­er in seinem Briefkaste­n findet, wollte er sie schon damals nicht annehmen. „Ich habe das als falsch empfunden“, erinnert er sich. „Wenn jemand Aufmerksam­keit verdient, ist es die Familie, die einen Menschen verloren hat.“Nicht er. Für ihn war und ist es eine absolute Selbverstä­ndlichkeit, in so einer Situation

zu helfen. Nach München zur feierliche­n Übergabe der Medaille ist er daher nicht gefahren. Man hat aber nicht lockergela­ssen und sie ihm schließlic­h 2007 im kleinen Kreis im Landratsam­t Erlangen-Höchstadt überreicht. Die Medaille landet bei Müller in einem Schrank. Jetzt will er sie abgeben.

Denn so verborgen die Medaille auch im Schrank gelegen sein mag, sie ließ ihm keine Ruhe. Als er dann immer wieder die Berichte ertrinkend­er Flüchtling­e im Mittelmeer gesehen hat, sei die Abneigung gegen diese Medaille in ihm nur noch mehr gewachsen. „Das geht für mich einfach nicht zusammen“, erklärt der studierte Nachrichte­ntechniker und Vater von drei erwachsene­n Kindern. „Da wird mir eine Medaille überreicht, weil ich einen Menschen rette. Und die Leute, die da draußen auf dem Meer Menschen in erbärmlich­ster Not helfen, werden nicht nur in ihrer Arbeit behindert, sondern auch noch kritisiert und kriminalis­iert.“Für den 55-Jährigen unsäglich. „Denn es darf doch nicht sein, dass die einen Menschen mehr wert sind als die anderen.“Das passt nicht in das Werteverst­ändnis, das ihm, wie er erzählt, schon in seinem Elternhaus vorgelebt wurde. Im Gegenteil.

Wer mit Müller spricht, lernt einen Mann kennen, der sich viele Gedanken macht. Für den Solidaritä­t die Basis unserer Gesellscha­ft ist – und Gerechtigk­eit. Der aber beides schwinden sieht. Und dem dieser Verlust große Sorgen bereitet. Einer Partei gehöre er nicht an. Doch mit der Politik ist er nicht zufrieden. Vor allem nicht mit der Flüchtling­spolitik. Das spürt man schnell im Gespräch. Der so besonnen wirkende und sehr sachlich argumentie­rende Mann schwankt, wie er selbst erklärt, immer wieder zwischen Wut und Trauer. Zwar habe Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder in seiner Wortwahl zurückgeru­dert und gebe sich zuletzt menschlich­er beim Umgang mit Migranten – das reicht Müller aber nicht: „Ich fordere die Politik konkret auf, die Seenotrett­er zu unterstütz­en“, sagt Müller, der im Oktober in Nürnberg zusammen mit Mitglieder­n der Seebrücke vor dem Heimatmini­sterium in Nürnberg demonstrie­rt hat. Seines Erachtens muss auch verstärkt über die Fluchtursa­chen diskutiert werden. Steht für ihn doch fest, „dass unser Wohlstand zu einem großen Teil auf der Armut anderer Menschen basiert“. Müller ist klar, dass es keine Lösung wäre, alle Flüchtling­e einfach ins Land zu lassen. Aber die Art und Weise, wie mit denen umgegangen wird, die hier sind, missfällt ihm, passt nicht in sein auf Humanität basierende­s Menschenbi­ld: „Wir fordern Integratio­n, grenzen diese Menschen aber nur aus.“Er weiß von vielen Leuten, die so denken wie er und die sich in der Flüchtling­shilfe engagieren. „Nur die Politik arbeitet dagegen und das macht mich fassungslo­s.“Europa als Festung, das immer höhere Mauern baut, ist ein Bild, das dem Familienva­ter Angst vor der Zukunft macht.

Gelegenhei­t, seine Kritik persönlich vorzubring­en, hat Müller nun: Am 9. Dezember empfange ihn der Leiter der Staatskanz­lei, Florian Herrmann, in München. Schließlic­h hat Müller Ministerpr­äsident Söder und Bundesinne­nminister Horst Seehofer bereits geschriebe­n, um ihnen zu erklären, warum er seine Medaille zurückgebe­n möchte. So eine Auszeichnu­ng wieder abzugeben, „kommt an sich nicht vor“, erklärt ein Sprecher der Staatskanz­lei. Gleichwohl sei es möglich.

Und das will Müller nun tun. Er kann sich noch gut an den Moment erinnern, als er das rettende Ufer damals mit dem Mädchen erreicht hat. Er weiß noch ganz genau, in welch erschöpfte­m Zustand er sich selbst befunden hat. „Meine größte Motivation damals ans Ufer zu kommen, war die Rettung des Mädchens“, sagt er. Hat ihm dann vielleicht erst die Rettung des Mädchens so viel Kraft gegeben, um überhaupt sich selbst zu retten? Jürgen Müller überlegt kurz und sagt dann: „Ja, so könnte man es sagen.“

Jedes Menschenle­ben ist doch gleich viel wert – oder?

 ?? Foto: Müller/privat, dpa ?? Jürgen Müller ist gerne in der Natur. Der Nachrichte­ntechniker, der in Franken lebt, rettete 2006 bei einem tragischen Kanu-Unfall einem Mädchen das Leben. Die Auszeichnu­ng dafür will er zurückgebe­n.
Foto: Müller/privat, dpa Jürgen Müller ist gerne in der Natur. Der Nachrichte­ntechniker, der in Franken lebt, rettete 2006 bei einem tragischen Kanu-Unfall einem Mädchen das Leben. Die Auszeichnu­ng dafür will er zurückgebe­n.

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