Mittelmaß
Aristoteles ist tot. Er kriegt nicht mehr mit, wie Anja Karliczek sein heiliges Mittelmaß runtermacht. „Mittelmaß kann nicht unser Anspruch sein“, sagte die Bundesbildungsministerin diese Woche mit Blick auf die neueste PisaStudie, die deutschen Schülerinnen und Schülern international nur Durchschnitt bescheinigt.
Aristoteles sah die Sache seinerzeit anders. „Die Mitte liegt aber zwischen zwei Schlechtigkeiten, dem Übermaß und dem Mangel“, schrieb er. Und: Die Mitte sei auch „eine Art von Spitze“. Das hatte die CDU, der Anja Karliczek angehört, auch lange von sich behauptet. „Maß und Mitte für unser Land“. Aber die Mitte bröselt, sie underperformt, wie man heute gerne sagt.
Wie viele Schüler in diesen Tagen bei Ovid („In der Mitte wirst du am sichersten gehen“) oder Aristoteles und seiner goldenen Tugend des Mittelmaßes Trost finden, wissen wir nicht – schon weil es kühn wäre, abzuschätzen zu wollen, wie viele Schüler diese Typen überhaupt kennen.
Im Übrigen gilt: Der Philosophen Verständnis von Mittelmaß ist auch ohne Pisa-Test im Sprachgebrauch längst in Schieflage geraten. Das Mittelmaß steht höchstens mittelprächtig da. Note: 3-. Ein mittelmäßiges Abendessen, ein mittelmäßiger Konzertabend, ein mittelmäßiger Film – das bedeutet bestenfalls: Geht so, langweilig, muss man nicht haben. Wusste schon der dem Mittelalter entkommene Franzose Jean de La Bruyère (1645 –1696), der ätzte: „Es gibt Dinge, bei denen die Mittelmäßigkeit unerträglich ist: Dichtkunst, Tonkunst, Malerei und öffentliche Rede.“
Niemand wird mit einem Mittelklassewagen angeben wollen – oder damit, die höchsten Gipfel eines Mittelgebirges ohne Sauerstoffflasche bestiegen zu haben. Und exzentrische Typen tragen ihre Haare zwar mitunter mittellang, aber niemals Mittelscheitel – siehe Donald Trump, Boris Johnson, Rezo und Lionel Messi. Wer im Mittelpunkt stehen will, muss sich von der mittelmäßigen Mitte abgrenzen.
Noch spürt die – stets von Abstiegsängsten geplagte – Mittelschicht der Gesellschaft zwar halbwegs festen Boden unter den Füßen, solange der Sommerurlaub im Mittelklassehotel weiterhin drin ist.
Doch wie sollen wir die bleierne Zeit halbwegs gelassen überbrücken, bis die von Anja Karliczek angeleierte „nationale Kraftanstrengung für Bildung“auch wirklich greift?
Die Antwort lautet: mit Marie von Ebner-Eschenbach. Die Schriftstellerin erkannte: „Die Erfolge des Tages gehören der verwegenen Mittelmäßigkeit.“