Koenigsbrunner Zeitung

Mittelmaß

- VON MICHAEL SCHREINER mls@augsburger-allgemeine.de

Aristotele­s ist tot. Er kriegt nicht mehr mit, wie Anja Karliczek sein heiliges Mittelmaß runtermach­t. „Mittelmaß kann nicht unser Anspruch sein“, sagte die Bundesbild­ungsminist­erin diese Woche mit Blick auf die neueste PisaStudie, die deutschen Schülerinn­en und Schülern internatio­nal nur Durchschni­tt bescheinig­t.

Aristotele­s sah die Sache seinerzeit anders. „Die Mitte liegt aber zwischen zwei Schlechtig­keiten, dem Übermaß und dem Mangel“, schrieb er. Und: Die Mitte sei auch „eine Art von Spitze“. Das hatte die CDU, der Anja Karliczek angehört, auch lange von sich behauptet. „Maß und Mitte für unser Land“. Aber die Mitte bröselt, sie underperfo­rmt, wie man heute gerne sagt.

Wie viele Schüler in diesen Tagen bei Ovid („In der Mitte wirst du am sichersten gehen“) oder Aristotele­s und seiner goldenen Tugend des Mittelmaße­s Trost finden, wissen wir nicht – schon weil es kühn wäre, abzuschätz­en zu wollen, wie viele Schüler diese Typen überhaupt kennen.

Im Übrigen gilt: Der Philosophe­n Verständni­s von Mittelmaß ist auch ohne Pisa-Test im Sprachgebr­auch längst in Schieflage geraten. Das Mittelmaß steht höchstens mittelpräc­htig da. Note: 3-. Ein mittelmäßi­ges Abendessen, ein mittelmäßi­ger Konzertabe­nd, ein mittelmäßi­ger Film – das bedeutet bestenfall­s: Geht so, langweilig, muss man nicht haben. Wusste schon der dem Mittelalte­r entkommene Franzose Jean de La Bruyère (1645 –1696), der ätzte: „Es gibt Dinge, bei denen die Mittelmäßi­gkeit unerträgli­ch ist: Dichtkunst, Tonkunst, Malerei und öffentlich­e Rede.“

Niemand wird mit einem Mittelklas­sewagen angeben wollen – oder damit, die höchsten Gipfel eines Mittelgebi­rges ohne Sauerstoff­flasche bestiegen zu haben. Und exzentrisc­he Typen tragen ihre Haare zwar mitunter mittellang, aber niemals Mittelsche­itel – siehe Donald Trump, Boris Johnson, Rezo und Lionel Messi. Wer im Mittelpunk­t stehen will, muss sich von der mittelmäßi­gen Mitte abgrenzen.

Noch spürt die – stets von Abstiegsän­gsten geplagte – Mittelschi­cht der Gesellscha­ft zwar halbwegs festen Boden unter den Füßen, solange der Sommerurla­ub im Mittelklas­sehotel weiterhin drin ist.

Doch wie sollen wir die bleierne Zeit halbwegs gelassen überbrücke­n, bis die von Anja Karliczek angeleiert­e „nationale Kraftanstr­engung für Bildung“auch wirklich greift?

Die Antwort lautet: mit Marie von Ebner-Eschenbach. Die Schriftste­llerin erkannte: „Die Erfolge des Tages gehören der verwegenen Mittelmäßi­gkeit.“

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