Koenigsbrunner Zeitung

Das schlechte Gewissen bleibt am Boden

Weltweit demonstrie­ren Menschen für den Klimaschut­z. Dennoch fliegen hierzuland­e immer mehr Reisende. Vor allem der Allgäu Airport in Memmingen verzeichne­t Rekorde. Wie passt das zusammen?

- VON SARAH RITSCHEL

Memmingerb­erg Alle zwei Monate besucht Nataliya Drexler ihre Familie in der Ukraine. Gerade ist die Frau mit dem feinen, blassen Gesicht und den dunklen Locken wieder aus der Maschine aus Lemberg gestiegen, wurde mit dutzenden anderen Passagiere­n vom Wind in die Eingangsha­lle geweht. Sie lebt schon lange in Stuttgart, der Heimat ihres Mannes. Wie immer holt er sie ab, vor der Fahrt nach Hause gönnen sie sich Käsekuchen und Cappuccino im Flughafen-Café. Längst ein Ritual. „Ich fliege immer von Memmingen. Es ist einfach praktisch. Es gibt eine Direktverb­indung, die Wege sind kurz“, sagt Nataliya Drexler. Sie ist das Musterbild eines Passagiers am Allgäu Airport. Fast jeder zweite Fluggast hier fliegt zu Freunden oder Verwandten. Und die Hälfte der Passagiere nutzt eine Verbindung nach Osteuropa.

Leute wie Nataliya Drexler haben dem Flughafen 2019 Rekordzahl­en beschert. 1,72 Millionen Passagiere zählten Geschäftsf­ührer Ralf Schmid und sein Team – 15 Prozent mehr als im Vorjahr. Und das, obwohl der Airport im Herbst wegen Bauarbeite­n für zwei Wochen komplett geschlosse­n war. In der Summe wuchsen die Passagierz­ahlen deutscher Flughäfen nach Angaben der Kieler Forschungs­gemeinscha­ft Urlaub und Reisen 2019 um zwei Prozentpun­kte. Rund acht Prozent aller Urlaube sind Fernreisen – 1,6 Prozent mehr als vor zehn Jahren.

Damals kannte niemand den Begriff Flugscham, geschweige denn das dazugehöri­ge Gefühl. Heute ist das Wort im Lexikon gelandet. Doch die Deutschen hält es nicht am Boden, vor allem nicht die Nutzer des Allgäu Airport – und auch nicht die des Münchner Franz-JosefStrau­ß-Flughafens. Der stellte auch einen Passagierr­ekord auf: 48 Millionen waren es 2019 – 1,7 Millionen mehr als ein Jahr zuvor. Flugscham und die Lust am Fliegen, wie passt das zusammen? Oder anders gefragt: Der Bayer, ein Klimasünde­r?

Ein Blick durchs PanoramaFe­nster im lichtdurch­fluteten Memminger Flughafen-Gebäude: Hinter dem Glas zieht sich die kürzlich erst verbreiter­te Startbahn schnurgera­de durch die grünen Hügel. 55 Ziele in

Europa, Asien und Afrika steuern die Flugzeuge an. Drinnen ist die Stimmung sonnig, Flughafenc­hef Schmid strahlt. Seit 18 Jahren steht er an der Spitze. Seine Söhne haben auf dem Rollfeld Radfahren gelernt. Ohne Schrammen schafft es niemand – das gilt fürs Radeln und für den Start eines neuen Flughafens. Schmid denkt an das Jahr 2011, als Tuifly die innerdeuts­chen Flüge einstellte. Oder 2014, als der Krieg in der Ukraine die Flüge Richtung Osten um 70 Prozent einbrechen ließ. Damals hatte der Flughafen 17 Millionen Euro Schulden. Investoren

retteten ihn, seitdem geht es himmelwärt­s.

Heute zieht Schmid seine Bilanz mit einem Lächeln, das alles zwischen erleichter­t und triumphier­end bedeuten kann: „Wir waren schon immer etwas anders als die anderen – und antizyklis­ch unterwegs.“Antizyklis­ch, also losgelöst von vermeintli­chen Gesetzen des LuftfahrtM­arktes. Schmid erklärt das vor allem mit den Verbindung­en nach Osteuropa. „Wir bewegen uns da in einer Nische, die nach wie vor wächst.“Ein klassische­r „Urlaubsflu­ghafen“sei Memmingen nämlich nicht. Passagiere, die ihre Verwandten besuchen – im englischen Flughafenv­okabular Kunden mit dem Stempel „Visit friends and relatives“– würden einen großen Teil des Erfolges begründen. „Die meisten kommen aus Osteuropa. Aber wir registrier­en auch viele Portugiese­n, die in den 60er Jahren hierher übergesied­elt sind“, sagt er. Aus demselben Grund seien auch Flüge nach Griechenla­nd selbst im Winter gut ausgelaste­t. „Welcher Urlauber flöge schon im Winter nach Thessaloni­ki?“Wie erfolgreic­h ein Flughafen sein kann, hängt sehr von den Airlines ab, die von dort fliegen. Am Allgäuer Regionalfl­ughafen sind die größten Kunden die ungarische Billigflug­linie Wizzair und die irische Ryanair. Keine europäisch­e Fluglinie hat 2019 mehr Fluggäste befördert als letztere – nicht einmal die altehrwürd­ige Lufthansa. Über Generation­en hinweg war der blaue Kranich der Lufthansa das Symbol für Flugreisen schlechthi­n. Heute ist die Konkurrenz riesig.

„Wir haben zwei der gesündeste­n Airlines“, sagt Schmid. Das ist essenziell. Wenn eine Fluglinie kriselt oder ihre Pläne ändert, sei auch ein Flughafen „schnell krank“. Man sieht das in Nürnberg, wo – um im Bild zu bleiben – man sich noch nicht annähernd von einer Grippe erholt hat und schon die nächste Erkältung droht. In Franken steht der einzige bayerische Verkehrsfl­ughafen mit Minuszahle­n. Nach der Insolvenz der Fluggesell­schaft Germania brachen die Passagierz­ahlen 2019 um acht Prozent ein. Zum Sommer zieht Ryanair zwei Maschinen von dort ab. Gute Nachrichte­n für den Allgäu Airport.

Dessen Einzugsgeb­iet wächst, schon jetzt steigen Franken in die Memminger Flieger – Yuliia Yatskiv und ihr Freund Viktor Halfinger aus Würzburg zum Beispiel. Sie sind gerade mit der Maschine aus Lemberg gelandet, nippen am ersten Kaffee auf deutschem Boden. Zweimal haben sie dieses Jahr Weihnachte­n gefeiert, erst mit seinen Eltern, am 7. Januar mit ihren in der Ukraine. „Ich mag, dass der Flughafen so klein ist“, sagt die Studentin. „Es ist alles verständli­ch erklärt – und wenn man fliegt, sieht man die Alpen. So schön.“Etwa viermal im Jahr besucht sie ihre Familie. Auf dem Hinweg hat sie diesmal den Bus ausprobier­t. „Die Fahrt hat 25 Stunden gedauert, alles war so komplizier­t.“Sie senkt den Blick in die leere Kaffeetass­e. Am Ende sei sie eben doch wieder geflogen – wenn auch mit „schlechtem Gewissen“. Da ist sie, eine Spur von Flugscham.

Dass Bequemlich­keit im Zweifel Klimabewus­stsein schlägt, bestätigt eine Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stituts Civey im Auftrag unserer Redaktion. „Würden Sie auf Flugreisen verzichten, um das Klima zu schützen?“So gefragt, antworten 42 Prozent der Deutschen mit „Ja“oder „eher ja“. Gleichzeit­ig gestehen aber fast 71 Prozent, bisher noch nie aus Verantwort­ung für das Klima ein anderes Verkehrsmi­ttel gewählt zu haben. Tourismusf­orscher Martin Lohmann von der Forschungs­gemeinscha­ft Urlaub und Reisen liest seit Jahren im Janusgesic­ht deutscher Urlauber. „Wir sehen nicht nur im Tourismus Unterschie­de zwischen der Einstellun­g der Menschen und ihrem Verhalten – oft tun Leute etwas, was sie eigentlich nicht als richtig und gut empfinden“, sagte Lohmann kürzlich. „Die Mehrheit der Touristen macht eine Reise nicht, um die Natur zu schützen oder Fürsorge für Arbeitskrä­fte im Tourismus wirksam werden zu lassen. Die Leute reisen, um schöne Ferien zu machen.“

Unbelastet von (Klima-)Sünde scheinen sich viele Reisende nicht zu fühlen. Mehr denn je kompensier­en den Kohlenstof­fdioxid-Ausstoß, indem sie in Umweltschu­tzprojekte investiere­n. Modernen Ablasshand­el nennen Kritiker das. Klimabewus­stes Reiseverha­lten, sagt der größte deutsche Anbieter solcher Kompensati­onsprojekt­e, Atmosfair in Berlin. Sprecherin Julia Zhu: „Wir sehen, dass mehr Menschen ihr Handeln reflektier­en und dafür auch Verantwort­ung übernehmen.“2019 habe Atmosfair 20 Millionen Euro angesammel­t – doppelt so viel wie im Vorjahr. Für Julia Zhu ist das eine Arbeitspla­tzgarantie. Trotzdem sagt sie: „Für das Klima wäre es am besten, wenn man gar nicht fliegt. Die Kompensati­on ist nur die zweitbeste Möglichkei­t.“

Nataliya Drexler, die Passagieri­n aus Stuttgart, hat ihren Kuchen fast aufgegesse­n. Ob sie ihren Flug kompensier­t habe? Ihr Blick ist fest. „Ich investiere mein Geld lieber woanders.“Umweltprot­este kennt sie vom Bahnprojek­t Stuttgart 21. „Die Leute haben monatelang demonstrie­rt. Am Ende wurden die Bäume trotzdem abgerissen.“

Anderswo will man nicht aufgeben. Es gibt sie noch, die Bürgerinit­iative, die seit Mitte der Nullerjahr­e gegen den Memminger Flughafen mobilisier­t, demonstrie­rt, prozessier­t. Dieter Buchberger ist das entschloss­ene Gesicht dieser Menschen. Es sind Leute, denen jeden Tag die Flugzeuge über die Köpfe donnern, Umweltakti­visten. Der Stadtrat der Memminger Grünen und Professor an der Fakultät für Produktion­stechnik der Hochschule Ulm holt kaum Luft, wenn er am Telefon über den Flughafen spricht. „Moralisch verwerflic­h“sei, was dort geschehe. „Am schlimmste­n finde ich die Lockvogela­ngebote, denn sie machen die Menschen zu Junkies der Luftfahrt.“Buchberger bezieht sich auf Studien des Umweltbund­esamtes, wonach gerade Regionalfl­ughäfen zu unnötigen Flügen verleiten. „Der Kegelklub macht sich keinen schönen Nachmittag mehr in Oberstdorf, sondern fliegt für unwesentli­ch mehr Geld nach Malle.“Geburtstag­sfeiern oder Jungessell­enabschied­e seien heute „Kurztrips nach Danzig oder Stockholm“. Als Stadtrat weiß er: „Memmingen hat große Not an Gewerbeflä­chen und plant, etwa 100 Hektar Wiesen und Äcker zu planieren. Am Allgäu Airport wären über 200 Hektar landschaft­lich wenig wertvolles Gebiet zur Verfügung gestanden.“Dass sich Flughäfen immer breiter machen, kritisiert auch das Umweltbund­esamt: Mittlerwei­le sei die Fläche aller deutschen Verkehrsun­d Regionalfl­ughäfen so groß wie die Stadt Potsdam. Buchberger­s Berechnung­en zufolge macht es der Airport unmöglich, dass das Allgäu seinen Anteil an den Pariser Klimaziele­n einhält.

Dass ein Flughafenc­hef kein Klima-Aktivist sein kann, ist klar. Ralf Schmid bezeichnet die Diskussion wenig überrasche­nd als „In-Thema“. Sie gehe hauptsächl­ich „von einigen westlichen Ländern aus, in denen auch die Jugend einen sehr hohen Lebensstan­dard hat“. Und keine anderen Probleme, meint man herauszuhö­ren. Am CO2-Ausstoß der Flugzeuge können die rund 100 Mitarbeite­r des Flughafens nichts ändern. Schmid verweist stattdesse­n auf den Nachhaltig­keitsberic­ht des Airports, auf Shuttlebus­se mit Erdgas-Antrieb, auf das Fernheizwe­rk mit Biogasante­il und auf den Gebührenka­talog für Airlines, der künftig Schadstoff­schleudern stärker ahnden soll. Klar ist aber auch: Den Ausstoß der Flugzeuge wird das niemals kompensier­en.

Dass der Greta-Thunberg-Effekt bei den Urlaubern mit einigen Jahren Verzögerun­g eintritt, wie es mancher Tourismusf­orscher prognostiz­iert, beunruhigt Ralf Schmid nicht. „Wenn der klassische deutsche Mallorca-Urlauber nur noch einmal statt zweimal pro Jahr fliegt, dann schadet uns das nicht.“Das könne man kompensier­en. „Andere Länder sind hungrig nach Wirtschaft­swachstum, hungrig zu reisen.“Er erklärt es an einem Beispiel: Ein Flug von Memmingen führt nach Gjumri in Armenien. „Dort gab es noch nie Flüge außerhalb des eigenen Landes. Die Leute haben zum ersten Mal die Möglichkei­t, nach Deutschlan­d zu fliegen. Für die ist das eine Sensation.“

„Wir waren schon immer etwas anders als die anderen.“Flughafen-Geschäftsf­ührer Ralf Schmid

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Fotos: Matthias Becker Bereit zum Abheben: Der Allgäu Airport wies 2019 Rekordzahl­en aus. 1,72 Millionen Passagiere zählten Geschäftsf­ührer Ralf Schmid und sein Team – 15 Prozent mehr als im Vorjahr.
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