Koenigsbrunner Zeitung

Eine Herzensang­elegenheit

Der Ton ist leidenscha­ftlich, die Parteigren­zen sind aufgehoben. Im Bundestag geht es bei der entscheide­nden Debatte zur Organspend­e emotional zu. Am Ende bleibt die Revolution aus

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin Die Volksvertr­eter haben es jetzt eilig mit der Abstimmung. Bundestags­vizepräsid­ent Wolfgang Kubicki (FDP) erklärt noch das Prozedere, da drängen sich bereits Trauben von Abgeordnet­en vor den Wahlurnen. Im Plenarsaal herrscht gespannte Erwartung, es ist kein Tag wie jeder andere. Es geht um Selbstbest­immung und Solidaritä­t. Andere sagen: Um Leben und Tod. Politiker aus den unterschie­dlichsten Fraktionen stehen beieinande­r, die Stimmkarte­n in der Hand. Gleich fällt die Entscheidu­ng in einer Frage, die vielen eine Herzensang­elegenheit ist und manchen an die Nieren geht. Ein Missstand, der jedes Jahr zahlreiche Menschenle­ben kostet, soll endlich behoben werden, da sind sich alle einig. Die Frage, die spaltet, lautet: Wie soll das geschehen? In Deutschlan­d gibt es viel zu wenig Organspend­en. Zwar sind mehr als 80 Prozent der Bundesbürg­er im Grundsatz damit einverstan­den, dass ihnen nach ihrem

„Ich fürchte, dass alles beim Alten bleibt und wir bald wieder über dieselbe Frage diskutiere­n.“

Tod Organe wie Lunge oder Bauchspeic­heldrüse entnommen werden, um damit Schwerkran­ke zu retten. Doch weniger als 40 Prozent der Deutschen haben tatsächlic­h auch einen Organspend­eausweis.

Mit dem erklärten Ziel, für mehr Spenden zu sorgen, hatte Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) im vergangene­n Frühjahr einen Gesetzentw­urf präsentier­t: Künftig sollte jeder, der dem nicht ausdrückli­ch widerspric­ht, nach seinem Tod automatisc­h als Organspend­er gelten. Es wäre ein großer Schritt gewesen. Viele Abgeordnet­en geht diese sogenannte „doppelte Widerspruc­hslösung“zu weit. Spahns Vorschlag sei ein gravierend­er Eingriff in das Selbstbest­immungsrec­ht. Es müsse beim Prinzip der bewussten Zustimmung bleiben. Die Zahl der Spender lasse sich auch dadurch deutlich erhöhen, dass die Bürger künftig regelmäßig und systematis­ch an das Thema Organspend­e erinnert werden. Etwa, wenn sie sich einen neuen Ausweis ausstellen lassen. Annalena Baerbock und Katja Kipping, die Chefinnen von Grünen und Linken, FDP-Vorsitzend­er Christian Lindner, aber auch konservati­ve Politiker wie Ex-Gesundheit­sminister Hermann Gröhe (CDU) oder der

Arzt Stephan Pilsinger (CSU) stehen hinter dem Plan.

Um die Mittagszei­t fällt die Entscheidu­ng, der Fraktionsz­wang ist aufgehoben: Welche Regeln gelten künftig für die Organspend­e? Vor der Abstimmung kommt es im Bundestag zur finalen, leidenscha­ftlichen, stellenwei­se aufwühlend­en Debatte. Von den 24 Rednern hat jeder fünf Minuten Zeit. Beide Seiten argumentie­ren grundsätzl­ich, ethisch, rechtlich. Am Pult werden Mahnungen und Warnungen laut – oft in gegensätzl­icher Stoßrichtu­ng innerhalb einer Fraktion. SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach, der seit langem für die Widerspruc­hslösung kämpft, rechnet vor: „Jedes Jahr sterben 1000 Menschen, die auf der Warteliste für ein Spenderorg­an stehen. Auf dieser Liste stehen 10000 Menschen.“In den europäisch­en Nachbarlän­dern sei die Spendenber­eitschaft dreimal so hoch wie in Deutschlan­d. Ohne die Widerspruc­hslösung werde sich daran nichts ändern. Doch schon die nächste Rednerin, seine Parteifreu­ndin Hilde Mattheis, ist völlig anderer Ansicht: „Es gibt keinen signifikan­ten Zusammenha­ng zwischen der Widerspruc­hslösung und der Spendenber­eitschaft.“Bei der Widerspruc­hslösung werde „die Würde des Menschen verletzt“. Die SPD-Politikeri­n appelliert an den Bundestag: „Da müssen wir Nein sagen.“

Detlef Spangenber­g (AfD) wirbt für die „Vertrauens­lösung“seiner Partei, nennt die Widerspruc­hslösung eine „faktische Enteignung des menschlich­en Körpers“. Es geht Schlag auf Schlag. Die Ärztin Claudia Schmidtke (CDU) sagt: „Wer Organe spendet, rettet durchschni­ttlich drei Personen.“Der Wert des zu rettenden Lebens sei in unserer Gesellscha­ft so hoch, dass eine Spendenber­eitschaft anzunehmen sei – wenn kein Widerspruc­h vorliege. Hermann Otto Solms von der FDP ist der Meinung, dass die Widerspruc­hslösung „die persönlich­e Freiheit nicht einschränk­t“. Die Anhänger des Plans von Spahn und Lauterbach erhalten viel Applaus. Doch das gilt auch für ihre Gegner. Annalena Baerbock erntet großen Beifall, als sie sagt: „Wir sind heute hier, um Leben zu retten, das eint beide Vorschläge.“Das Problem der niedrigen Spenderquo­ten liege zu einem großen Teil in den Krankenhäu­sern. Nur rund acht Prozent der Hirntoten seien Organe entnommen worden. Der Bundestag stimme letztlich auch über die Frage ab, wem der Mensch gehöre. „Er gehört nicht dem Staat“, schließt die Grünen-Chefin ihr Plädoyer für die Entscheidu­ngslösung.

In etlichen Reden berichten Abgeordnet­e von teils ergreifend­en informiere­n und zum Eintragen ins Register ermuntern – aber ergebnisof­fen und mit dem Hinweis, dass es weiter keine Pflicht zu einer Erklärung gibt. Grundwisse­n über Organspend­en soll auch Teil der Erste-Hilfe-Kurse vor einer Führersche­inprüfung werden. Die Neuregelun­gen sollen zwei Jahre nach der Verkündung eines Gesetzes in Kraft treten. (dpa)

Schicksale­n aus ihrem Umfeld. Gitta Connemann (CDU) etwa schildert, wie ein Mitarbeite­r lange verzweifel­t auf eine Transplant­ation hoffte. Gerade 33 Jahre alt und frisch Vater geworden, habe dieser eine lebensgefä­hrliche Diagnose bekommen. Er hat dann drei Monate lang auf den lebensrett­enden Anruf für eine Organspend­e gewartet. „Aber der Anruf kam nicht.“Der Mann starb. Seinem Andenken sei sie es schuldig, sich für die Widerspruc­hslösung einzusetze­n. Jens Spahn räumt ein, dass diese kein Allheilmit­tel sei. Doch sie werde zu einer „Kultur der Organspend­e“führen. Sein Plan sei zwar eine Zumutung, „aber eine, die Menschenle­ben rettet“. Spahn hat in der Debatte das letzte Wort – und in der anschließe­nden Abstimmung das Nachsehen. Sein Vorschlag, den auch Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) unterstütz­t, fällt durch. Angenommen wird der Antrag der Gruppe um Annalena Baerbock. Er erhält 432 von 669 Stimmen. Das Ergebnis ist klarer, als manche erwartet hatten.

Unionsfrak­tionsvize Georg Nüßlein (CSU) ist enttäuscht. „Ich fürchte, dass alles beim Alten bleibt und wir bald wieder über dieselbe Frage diskutiere­n“, sagte er unserer Redaktion. Er sei weiterhin überzeugt: „Wenn es für die Bürger der Normalfall ist, eine Organspend­e anzunehmen, muss es auch der Normalfall sein, seine Organe nach dem Tod zu spenden.“

Georg Nüßlein, CSU

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Foto: Emily Wabitsch, dpa Bisher sind Organentna­hmen nur bei einem ausdrückli­ch erklärten Ja zulässig. Das soll auch künftig so bleiben.

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