Polen und Brüssel: Es geht ums Ganze
Der Streit zwischen der EU und Warschau über die Justizreform eskaliert
Warschau Der Druck auf die polnische Regierung, ihre umstrittenen Justizreformen zurückzunehmen, wächst beinahe täglich. Am Samstag zogen bei einem „Marsch der 1000 Roben“Richterinnen und Richter durch Warschau. Am Dienstag beantragte die EU-Kommission eine einstweilige Verfügung beim Europäischen Gerichtshof, um das neueste Gesetz der rechtskonservativen PiS zu stoppen, mit dem die Partei von Jaroslaw Kaczynski missliebige Richter disziplinieren will. Andernfalls könne „ein nicht wieder gutzumachender Schaden am Rechtsstaat“entstehen, erklärte ein Kommissionssprecher am Mittwoch.
Fast zeitgleich nahm die Opposition in Warschau die Steilvorlage im polnischen Senat auf. Die zweite, eher machtlose Parlamentskammer, wo der PiS eine Stimme zur Mehrheit fehlt, beriet acht Stunden über die strittige Gesetzesvorlage, bevor sie sich vertagte – auf den Donnerstag, an dem die Venedig Kommission des Europarates einen Warschau-Besuch beendete. Das Fazit der Verfassungsrechtler lautete: „Das geplante Gesetz verletzt die Unabhängigkeit der Justiz.“Beobachter in Warschau rechneten sicher damit, dass die Opposition mit diesem Expertenurteil im Rücken die PiS-Pläne im Senat ablehnen würde. Im Sejm jedoch, der ersten Parlamentskammer, hat die PiS genug Macht, um ihre Reformpläne durchzusetzen. Auch die Resolution des EU-Parlaments vom Donnerstag, die Polen und Ungarn vorwarf, die „Integrität der europäischen Werte zu verletzen und damit die Glaubwürdigkeit der EU als Ganzes zu unterminieren“, dürfte daran nichts ändern. Die Formulierung zeigt: Es geht ums Ganze.
Nach ihrem Wahlsieg 2015 ging die PiS auf breiter Front gegen die Unabhängigkeit der Gerichte vor. Begründung: Zu viele Richter stammten noch aus kommunistischer Zeit. Um dies zu korrigieren, änderte die PiS die Arbeitsgrundlage des Nationalen Justizrats, der in Polen über die Besetzung von Richterstellen entscheidet. Die Mitglieder des Rats sollten fortan von der Parlamentsmehrheit bestimmt werden, also von der PiS. Die Partei hätte dadurch starken Einfluss auf die Rechtsprechung bekommen.
Darin sah nicht nur die polnische Opposition, sondern auch die EUKommission einen Angriff auf die Gewaltenteilung. Sie leitete ein Rechtsstaatsverfahren ein. Schließlich stoppte der Europäische Gerichtshof (EuGH) zentrale Teile der PiS-Reformen. Doch die Kaczynski-Partei
holte sogleich zum nächsten Schlag aus und schuf eine Disziplinarkammer am Obersten Gerichtshof, die künftig richterliche Entscheidungen kontrollieren soll. Das Problem aus Sicht der Kritiker: Auf die Arbeit der Kammer hat wiederum Justizminister Zbigniew Ziobro großen Einfluss.
Nun also soll der EuGH den Streit entscheiden. Die PiS gibt sich allerdings entschlossen, an ihrem Gesetz festzuhalten, komme, was wolle. Die Kammer sei „auf Grundlage der polnischen Verfassung, nicht auf
Basis der EU-Verträge ins Leben gerufen“worden, erklärte Regierungssprecher Piotr Müller. Letztere spielten für die Justizgesetzgebung eines Mitgliedslandes keine Rolle. Internationale Experten sind allerdings meist anderer Ansicht. Unlängst erklärte der designierte Präsident des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe, Stephan Harbarth: „Europa ist eine Rechtsgemeinschaft. Das ist so in den EUVerträgen festgeschrieben.“
Es gilt als wahrscheinlich, dass der EuGH zu einer ähnlichen Einschätzung kommt. Und dann? Die meisten Beobachter in Warschau sind sich einig, dass eine erneute Niederlage der polnischen Regierung vor Gericht das Verhältnis zwischen Warschau und Brüssel massiv verschlechtern würde. Ignoriert die PiS ein EuGH-Urteil, wäre dies ein offener Bruch der EU-Verträge, mit kaum absehbaren Folgen. Einige Kommentatoren halten sogar einen „Polexit durch die Hintertür“für möglich, einen Austritt Polens aus der EU mit der Begründung, dass nur so die Souveränität der nationalen Politik zu sichern sei.
Ignoriert Polen das Urteil, wäre das der offene Bruch