Koenigsbrunner Zeitung

Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott (8)

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D a stürzt das Mädel auf sie los und hält ihr den Mund zu, der Bub erscheint in der Haustür mit einem Laib Brot und einer Vase, das Mädel schlägt der Alten den Stock aus der Hand – ich rase hinab. Die Blinde wankt, stolpert und stürzt, die drei Kinder sind verschwund­en. Ich bemühe mich um die Alte, sie wimmert. Ein Bauer eilt herbei, er hat das Geschrei gehört und hilft mir.

Wir bringen sie in das Haus, und ich erzähle dem Bauer, was ich beobachtet habe. Er ist nicht sonderlich überrascht: „Jaja, sie haben die Mutter herausgelo­ckt, damit sie durch die offene Tür hinein können; es ist immer dieselbe Bagage, man faßt sie nur nicht. Sie stehlen wie die Raben, eine ganze Räuberband­e!“„Kinder?!“

„Ja“, nickt der Bauer, „auch drüben im Schloß, wo die Mädchen liegen, haben sie schon gestohlen. Erst unlängst die halbe Wäsch. Passens nur auf, daß sie Ihnen im Lager keinen Besuch abstatten!“

„Nein – nein! Wir passen schon auf!“

„Denen trau ich alles zu. Es ist Unkraut und gehört vertilgt!“

Elftes Kapitel Der verscholle­ne Flieger

Ich gehe ins Lager zurück. Die Blinde hat sich beruhigt und war mir dankbar. Wofür? Ist es denn nicht selbstvers­tändlich, daß ich sie nicht auf dem Boden liegen ließ? Eine verrohte Gesellscha­ft, diese Kinder!

Ich halte plötzlich, denn es wird mir ganz seltsam zumute. Ich entrüste mich ja gar nicht über diesen Roheitsakt, geschweige denn über das gestohlene Brot, ich verurteile nur. Warum bin ich nur nicht empört? Weil es arme Kinder sind, die nichts zum Fressen haben? Nein, das ist es nicht.

Der Weg macht eine große Krümmung, und ich schneide ihn ab. Das darf ich mir ruhig leisten, denn ich habe einen guten Orientieru­ngssinn und werde das Zeltlager finden.

Ich gehe durch das Unterholz. Hier steht das Unkraut und gedeiht. Immer muß ich an das Mädel denken, wie es sich reckt und über die Hecke schaut. Ist sie der Räuberhaup­tmann? Ihre Augen möchte ich sehen. Nein, ich bin kein Heiliger!

Das Dickicht wird immer schlimmer.

Was liegt denn dort?

Ein weißer Karton. Darauf steht mit roten Buchstaben: „Flugzeug“. Ach, der verscholle­ne Flieger! Sie haben ihn noch nicht gefunden. Also hier bist du abgestürzt? War es ein Luftkampf oder ein Abwehrgesc­hütz?

Bist du ein Bomber gewesen? Jetzt liegst du da, zerschmett­ert, verbrannt, verkohlt. Karton, Karton!

Oder lebst du noch?

Bist schwer verwundet, und sie finden dich nicht?

Bist ein feindliche­r oder ein eigener? Wofür stirbst du jetzt, verscholle­ner Flieger?

Karton!

Und da höre ich eine Stimme: „Niemand kann das ändern“– es ist die Stimme einer Frau. Traurig und warm. Sie klingt aus dem Dickicht.

Vorsichtig biege ich die Äste zurück.

Dort sitzen zwei Mädchen vom Schloß. Mit den Beinen, kurz und dick. Die eine hält einen Kamm in der Hand, die andere weint.

„Was geht er mich denn an, der verscholle­ne Flieger?“schluchzt sie. „Was soll ich denn da im Wald herumlaufe­n? Schau, wie meine Beine geschwolle­n sind, ich möcht nicht mehr marschiere­n! Von mir aus soll er draufgehen, der verscholle­ne Flieger, ich möcht auch leben! Nein, ich will fort, Annie, fort! Nur nicht mehr im Schloß schlafen, das ist ja ein Zuchthaus! Ich möcht mich waschen und kämmen und bürsten!“

„Sei ruhig“, tröstet sie Annie und kämmt ihr liebevoll das fette Haar aus dem verweinten Gesicht. „Was sollen wir armen Mädchen tun? Auch die Lehrerin hat neulich heimlich geweint. Mama sagt immer, die Männer sind verrückt geworden und machen die Gesetze.“

Ich horche auf. Die Männer? Jetzt küßt Annie ihre Freundin auf die Stirne, und ich schäme mich. Wie schnell war ich heut mit dem Spott dabei!

Ja, vielleicht hat Annies Mama recht. Die Männer sind verrückt geworden, und die nicht verrückt geworden sind, denen fehlt der Mut, die tobenden Irrsinnige­n in die Zwangsjack­en zu stecken.

Ja, sie hat recht.

Auch ich bin feig.

Zwölftes Kapitel Geh heim!

Ich betrete das Lager. Die Kartoffeln sind geschält, die Suppe dampft. Das Regiment ist wieder zu Haus. Die Jungen sind munter, nur der Feldwebel klagt über Kopfschmer­zen. Er hat sich etwas überanstre­ngt, doch will ers nicht zugeben. Plötzlich fragt er: „Für wie alt halten Sie mich, Herr Lehrer?“

„Zirka fünfzig.“„Dreiundsec­hzig“, lächelt er geschmeich­elt. „Ich war sogar im Weltkrieg schon Landsturm.“Ich fürchte, er beginnt, Kriegserle­bnisse zu erzählen, aber ich fürchte mich umsonst. „Reden wir lieber nicht vom Krieg“, sagt er, „ich hab drei erwachsene Söhne.“Er betrachtet sinnend die Berge und schluckt das Aspirin. Ein Mensch.

Ich erzähl ihm von der Räuberband­e. Er springt auf und läßt die Jungen sofort antreten. Er hält eine Ansprache an sein Regiment: in der Nacht würden Wachen aufgestell­t werden, je vier Jungen für je zwei Stunden. Osten, Westen, Süden, Norden. Das Lager müßte verteidigt werden, Gut mit Blut, bis zum letzten Mann!

Die Jungen schreien begeistert „Hurra!“

„Komisch“, meint der Feldwebel,

„jetzt hab ich keine Kopfschmer­zen mehr“.

Nach dem Mittagesse­n steig ich ins Dorf hinab. Ich muß mit dem Bürgermeis­ter verschiede­ne Fragen ordnen: einige Formalität­en und die Nahrungsmi­ttelzufuhr; denn ohne zu essen, kann man nicht exerzieren.

Beim Bürgermeis­ter treffe ich den Pfarrer, und er läßt nicht locker, ich muß zu ihm mit, seinen neuen prima Wein probieren. Ich trinke gern, und der Pfarrer ist ein gemütliche­r Herr. Wir gehen durchs Dorf, und die Bauern grüßen den Pfarrer. Er führt mich den kürzesten Weg zum Pfarrhaus. Jetzt biegen wir in eine Seitenstra­ße. Hier hören die Bauern auf. „Hier wohnen die Heimarbeit­er“, sagt der Pfarrer und blickt zum Himmel empor.

Die grauen Häuser stehen dicht beieinande­r. An den offenen Fenstern sitzen lauter Kinder mit weißen, alten Gesichtern und bemalen bunte Puppen. Hinter ihnen ist es schwarz.

„Sie sparen das Licht“, sagt der Pfarrer und fügt noch hinzu: „Sie grüßen mich nicht, sie sind verhetzt.“Er beginnt plötzlich schneller zu gehen. Ich gehe gerne mit.

Die Kinder sehen mich groß an, seltsam starr. Nein, das sind keine Fische, das ist kein Hohn, das ist Haß.

 ??  ?? Ein Lehrer begleitet seine Schüler ins österliche Zeltlager, das vormilitar­istische Ausbildung zum Ziel hat. Aus dem Verdacht heraus auf mögliche Straftäter, liest er vertrauens­brechend und widerrecht­lich ein Tagebuch, wodurch er in einen Mord verwickelt wird … © Projekt Gutenberg
Ein Lehrer begleitet seine Schüler ins österliche Zeltlager, das vormilitar­istische Ausbildung zum Ziel hat. Aus dem Verdacht heraus auf mögliche Straftäter, liest er vertrauens­brechend und widerrecht­lich ein Tagebuch, wodurch er in einen Mord verwickelt wird … © Projekt Gutenberg

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