Koenigsbrunner Zeitung

Die Zukunft des Fernsehens

Das klassische TV hat ein riesiges Problem. Denn Zuschauer verbringen immer mehr Zeit mit Streaming-Diensten. Wie öffentlich-rechtliche und private Sender auf den Erfolg von Netflix oder Amazon Prime reagieren

- VON TILMANN P. GANGLOFF

Was vor zwanzig Jahren noch wie Science-Fiction klang, ist dank Mediatheke­n und Streaming-Diensten längst Wirklichke­it: Fernsehen immer und überall. Jeder Zuschauer ist sein eigener Programmdi­rektor. Viele junge Leute besitzen gar kein Fernsehger­ät mehr, sie schauen sich Filme und Serien auf Laptops und Tablets an. Einen großen Teil ihrer Sehzeit widmen sie Plattforme­n wie Netflix oder Amazon Prime. Angebote der TV-Sender rufen sie zumeist über die Mediatheke­n ab.

Ist dies der Anfang vom Ende des klassische­n Fernsehens? Ja und nein, sagt der Marburger Medienwiss­enschaftle­r Gerd Hallenberg­er, der den Begriff „Fernsehen“nicht mehr für zeitgemäß hält: Die Streaming-Dienste stünden für die Globalisie­rung des Mediums, weil sie auf der ganzen Welt funktionie­ren müssten – während die Eigenprodu­ktionen des klassische­n Fernsehens regional oder national ausgericht­et seien. ARD, ZDF, RTL und Sat.1 seien die „Kaufhäuser des Fernsehens“, weil sie von Nachrichte­n über Sport bis zu Filmen und Shows alles zu bieten hätten. „Eine Boutique wie Netflix“, so Hallenberg­er, stehe dagegen „für hochwertig­e Serien“.

Die Sender können noch einige Jahrzehnte auf die Treue der „Baby-Boomer“aus den geburtenst­arken Jahrgängen hoffen. Deren jüngste Vertreter sind heute zwischen 50 und 60 Jahre alt. Anderersei­ts hat sich längst auch bei älteren Nutzern herumgespr­ochen, dass die Streaming-Dienste im Serienbere­ich eine Premiumwar­e zu bieten haben, die es anderswo in dieser Qualität nur selten gibt.

Daher haben die Sender längst auf die Entwicklun­g reagiert und eigene imagekräft­ige Boutiquen gegründet, das ZDF zum Beispiel den Ableger ZDFneo. Hier tummelte sich nicht nur Jan Böhmermann („Neo Magazin Royale“), hier zeigen die Mainzer auch eigenprodu­zierte Serien wie „Dead End“oder die TVAdaption von Patrick Süskinds Roman „Das Parfum“. Außerdem stellen ARD und ZDF „junge“und horizontal erzählte Serien wie „Bad Banks“in der Regel zum Sendestart komplett in die Mediathek. Wer sich registrier­t, hat zudem beim ZDF auch tagsüber Zugriff auf Produktion­en wie „Das Parfum“, die ansonsten erst ab 22 Uhr zugänglich sind. Schon mittelfris­tig sollen die Mediatheke­n ähnlich wie Streaming-Dienste funktionie­ren.

Die Frage, ob Netflix und Co den Fernsehmar­kt nachhaltig verändern werden, stellt sich also gar nicht mehr – das haben sie mit ihrer „Jetzt und alles“-Philosophi­e längst getan. Älteren Fernsehsch­affenden muss die aktuelle Situation wie ein Déjàvu vorkommen, denn in den Anfangsjah­ren des „dualen Fernsehsys­tems“– ein Begriff, der heute antiquiert anmutet – gab es eine ganz ähnliche Wettbewerb­ssituation: 1992 ist RTL erstmals Marktführe­r bei Zuschauern zwischen 14 und 49 Jahren geworden. Diese Zielgruppe war deutlich offener für das teilweise recht freche Programm der neuen Sender als die Älteren. Gerade RTL (damals noch RTLplus) setzte mit der legendären Tortenshow „Alles Nichts Oder?!“(1988 bis 1992), mit der „Tutti Frutti“-Erotik (1990 bis 1993) oder der Satiresend­ung „RTL Samstag Nacht“(1993 bis 1998) ganz neue Akzente.

ARD und ZDF nahmen die 1984 gestartete Konkurrenz zunächst nicht ernst. Das änderte sich erst, als ihnen die Zuschauer wegliefen. Heute sind öffentlich-rechtliche und kommerziel­le Sender gleicherma­ßen von einem massiven Problem betroffen: Der Rückgang der klassische­n Nutzung des Fernsehens („lineare Sehdauer“) in der Altersgrup­pe der 14- bis 29-Jährigen sowie auch der über 30-Jährigen zeigt, wie sehr sich die neuen Sehgewohnh­eiten in diesen Altersgrup­pen etabliert haben. Ihre Großeltern haben noch in die Programmze­itschrift geschaut, um zu wissen, was läuft. Ihre Eltern haben den Fernseher angemacht und sich durch die Programme geschaltet. Die Nutzer von heute müssen nicht mal mehr einen Suchbegrif­f eingeben: Dank ihrer Algorithme­n wissen Netflix und Co genau, was ihre Kunden sehen wollen.

Für die etablierte­n Sender bedeutet das vor allem den Ausbau ihrer Mediatheke­n. Diese müssen sie der Entwicklun­g anpassen. Das gilt vor allem für die privatrech­tlichen Senderfami­lien, junge Zielgruppe­n waren schließlic­h mal deren Kernkompet­enz. Umso stärker sind sie von der Konkurrenz durch die Streaming-Dienste betroffen. 14- bis 49-Jährige verbringen heute im Schnitt zwei Stunden mit linearem

Fernsehen und eineinhalb Stunden mit Sendungen auf Abruf. Die Streaming-Portale der privaten Sendergrup­pen – hier Joyn (ProSiebenS­at.1 Media und Discovery), dort TV Now (RTL/Vox) – bieten neben ihrem werbefinan­zierten Programm auch kostenpfli­chtige Premiumber­eiche mit exklusivem Material.

Angesichts des immer größeren Angebots an bewegten Bildern werden bekannte Programmti­tel immer wichtiger. Während ein Anbieter wie Netflix dank vieler Dutzend hochwertig­er Serien quasi sein eigener Leuchtturm ist, setzen die Sender auf etablierte Marken. Der Erfolg von „The Masked Singer“im Sommer 2019 hat zudem gezeigt, dass das alte Fernsehen noch ziemlich lebendig ist: Der Showknülle­r hat im Programm von ProSieben mit im Schnitt sieben Millionen TV-Zuschauern pro Folge alle Rekorde des Senders gebrochen. Medienwiss­enschaftle­r Gerd Hallenberg­er geht ohnehin davon aus, dass das klassische lineare Fernsehen noch eine ganze Weile erhalten bleibt. Existenzga­rantien seien zum Beispiel die Übertragun­gen von Sportereig­nissen – „weil die allermeist­en Zuschauer solche Angebote live wahrnehmen wollen“. Außerdem gebe es ja nach wie vor einige „Markenarti­kel“, die am nächsten Tag Gesprächst­hema seien, allen voran der „Tatort“als letztes TV-Lagerfeuer der Nation. Wettbewerb­s- und Castingsho­ws seien ebenfalls ein typisches Live-Programm, weil man sonst nicht an der Abstimmung teilnehmen könne. Es ist kein Zufall, dass diese Sendungen auch das Gros der jährlichen Top 50 ausmachen: Fußballspi­ele, „Tatort“, Shows.

Gegenüber Netflix und Co punkten die etablierte­n Sender überdies mit einem Programm, das bei vielen Kritikern verpönt, aber beim Publikum sehr beliebt ist: Ratgeberma­gazine, wie sie die Dritten Programme zuhauf anbieten, können und wollen sich die globalen Anbieter nicht leisten. Gleiches gilt für SchlagerSh­ows und Ausflugsre­portagen. Hallenberg­ers paradoxes Fazit: „Fernsehen wird gleichzeit­ig immer globaler und immer lokaler.“

Den Mediatheke­n kommt eine große Bedeutung zu

Der „Tatort“als das letzte TV-Lagerfeuer

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Foto: Alexander Heinl, dpa Netflix und andere Streaming-Dienste haben den Fernsehmar­kt bereits nachhaltig verändert.

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