Koenigsbrunner Zeitung

Wo alles begann

- VON FABIAN KRETSCHMER

In China heißt es offiziell, die Ausbreitun­g des Coronaviru­s sei gebremst. Nun versuchen die Menschen, ein Stückchen Normalität zurückzuer­obern. Gleichzeit­ig häufen sich die Hinweise, dass die Regierung die Pandemie womöglich hätte verhindern können

Peking Ob Jogger im Park, Selfie schießende Pärchen vor Kirschblüt­enbäumen oder junge Leute beim Biertrinke­n im Pub: In Peking erwacht nicht nur der Frühling, sondern auch so etwas wie Normalität. Die Straßen werden nicht mehr nur von Lebensmitt­el-Kurieren auf ihren Electro-Scootern befahren, sondern auch von Berufspend­lern und Radfahrern. Quasi in Echtzeit lässt sich beobachten, wie in der 20-Millionen-Metropole ein Restaurant nach dem anderen wieder öffnet und die Leute vermehrt auf die Straße gehen – einige schon ohne die omnipräsen­te Gesichtsma­ske.

Am Mittwoch hat die Nationale Gesundheit­skommissio­n 47 neue Corona-Fälle bestätigt, davon stammt nach offizielle­n Angaben kein einziger aus dem Land selbst. Bei praktisch allen Neuinfizie­rten soll es sich um „importiert­e“Fälle aus dem Ausland handeln – also um Menschen, die das Virus nach China eingeschle­ppt haben. So entsteht der

Eindruck, als stünde China kurz davor, virusfrei zu werden.

Nun berichtet das vergleichs­weise kritische Magazin Caixin allerdings, dass in Wuhan, quasi der Heimat des Coronaviru­s, weiterhin täglich mehrere asymptotis­che Fälle auftreten – also Personen, die zwar positiv auf Covid-19 getestet werden, aber keine Symptome haben. Diese tauchen in China in der Statistik nicht auf. Zudem behauptet Caixin, bei einem neuen Patienten vom Dienstag handele es sich um einen Arzt, der von einem solchen „asymptotis­chen Fall“angesteckt wurde. Die Behörden behaupten jedoch: Asymptotis­che Patienten verbreiten die Infektion nicht weiter.

Offiziell ist nur von „importiert­en“Neuinfizie­rten die Rede. Diese müssen grundsätzl­ich in 14-tägige Quarantäne. Etwa ins Hotel Landmark unweit des Botschafts­viertels in Peking. Wer sich dem retro-futuristis­chen Betonklotz nähert, wird von zwei Männern in schwarzer Kleidung mit ausgestrec­kter Hand

„Bleiben Sie, wo Sie sind. Das ist kein Hotel, das ist die Regierung“, sagt einer. Den Blick in die Lobby kann er jedoch nicht verhindern. Dort sind Männer von Kopf bis Fuß in Schutzklei­dung gehüllt. Ihre Gesichter sind hinter Gesichtsma­sken versteckt. Eine Szene wie aus einem Science-Fiction-Film.

Würde es sich um einen Katastroph­enfilm handeln, wäre die jetzige Entwicklun­g ein aberwitzig­er Handlungsw­echsel, der selbst den tollkühnst­en Drehbuchsc­hreibern nicht einfallen würde. Die Profifußba­ller aus Wuhan beispielsw­eise haben ihr Trainingsl­ager in Spanien wegen der sich dort verschlimm­ernden Epidemie abgebroche­n und sind nach China zurückgeke­hrt. Der amerikanis­che Technikrie­se Apple hat weltweit seine Flagship-Stores geschlosse­n – bis auf die auf dem chinesisch­en Festland. Und Chinas Kommunisti­sche Partei spendet Italien medizinisc­hes Material. „In der Anfangspha­se haben wir Masken aus Deutschlan­d bekommen. Jetzt versuchen wir Masken aus China nach Deutschlan­d zu schicken“, sagt Thomas Nürnberger, der die Geschäfte des deutschen Mittelstän­ders EBM-Papst in China leitet.

In Peking berichten Ausländer, dass auffällig viele Chinesen auf der Straße einen weiten Bogen um sie machen. Die Staatsmedi­en berichten von der Wiedereröf­fnung des Xiaotangsh­an-Krankenhau­ses – eines Feldspital­s, in dem 2003 SarsPatien­ten behandelt wurden. Nun wird es ausschließ­lich für aus dem Ausland kommende Corona-Fälle genutzt.

„Halten Sie Abstand“, sagt auch jetzt ein Mann mit roter Kappe. Er steht vor der Dorfeinfah­rt von Zhuishikou, einer Gemeinde, die eine Stunde nördlich der Hauptstadt zwischen kargen Berghängen, Apfelbaumf­eldern und Gräbern aus der Ming-Dynastie liegt. Der 300-Einwohner-Ort wird von einem kleinen Fluss umkreist, was ihn wie eine Festung aussehen lässt. Ein stimmiger Vergleich: Am Dorfeingan­g mustert eine ältere Frau den deutschen Reporter argwöhnisc­h und ein Bauer sagt: „Wir haben Angst vor Ausländern. Wer weiß, woher die kommen.“

Das kurze Gespräch mit dem

Dorfwächte­r ergibt: Seit Ende Januar ist Zhuishikou vollständi­g von der Außenwelt abgeriegel­t, niemand außer den Bewohnern darf den Ort betreten. In drei Schichten arbeiten die Dorfwächte­r rund um die Uhr. Langweilig sei sein Dienst schon, sagt der Chinese, aber was könne man schon machen. Dann nähert sich ein BMW der Sperre. Eine Frau sitzt am Steuer. Der Mann mustert das Nummernsch­ild, misst die Körpertemp­eratur der Fahrerin und lässt sie schließlic­h passieren.

Der nächste geöffnete Supermarkt ist fünf Autominute­n entfernt in einem Nachbardor­f, das ebenfalls abgeriegel­t wurde. Auf einem roten Propaganda­banner prangt der Spruch: „Den Kampf gegen das Virus gewinnen wir!“Ein Wächter in brauner Steppjacke erklärt: „Nur ein einziger Infizierte­r wäre ein Desaster für unser Dorf. Die Quarantäne-Maßnahmen sind das Beste für mich und auch die Gesellscha­ft als Ganzes.“

Schon bald mischt sich Zhang Xuequi in die Unterhaltu­ng, eine Dorfärztin in weißem Kittel. Sie sagt: „Sie sind nicht willkommen hier, schließlic­h haben wir keine Ahnung, woher Sie kommen.“Im Ausland sei der Ausbruch des Virus viel schlimmer als in China.

Das gängige Narrativ der Kommunisti­schen Partei lautet, man habe durch drastische Maßnahmen wie flächendec­kende Quarantäne und „aggressive­s Aufspüren potenziell­er Infizierte­r aus der Weltgegebr­emst: meinschaft“zwei bis drei Wochen Zeit erkauft. Die staatliche­n Propaganda­medien unterschla­gen dabei freilich, dass die chinesisch­e Regierung durch eine Mischung aus Inkompeten­z und Vertuschun­gsaktionen die Epidemie überhaupt erst hat eskalieren lassen. Eine am 13. März von der britischen Universitä­t Southampto­n veröffentl­ichte Studie besagt, dass es allein im Land zu 95 Prozent weniger Ansteckung­en gekommen wäre, hätte Peking seine Gegenmaßna­hmen drei Wochen früher gestartet.

Hat sie aber nicht. Und so weist die Statistik – die offizielle zumindest – am Mittwoch bislang 3281 Todesopfer auf. Insgesamt wurden auf dem chinesisch­en Festland 81 218 Infizierte registrier­t, von denen sich mehr als 73000 wieder erholt haben.

Rückblick: Am 10. Dezember fühlte sich Wei Guixian derart schlecht, dass die Händlerin, die auf dem Huanan-Markt in Wuhan Meeresfrüc­hte verkaufte, eine örtliche Klinik aufsuchte. Dann jedoch setzte sie ganz normal ihren Arbeitsdie­nst fort. Eine Woche später kämpften die Ärzte um das Leben der 57-Jährigen, die kaum mehr bei Bewusstsei­n war.

Lange galt Wei Guixian als eine der ersten aufgezeich­neten Fälle von Covid-19 und besagter Fischmarkt in der zentralchi­nesischen Elf-Millionen-Einwohner-Metropole als gesicherte­r Ursprungso­rt des Virus. Dann berichtete die in Hongkong ansässige South China Morning Post unter Berufung auf chinesisch­e Regierungs­dokumente, dass sich die erste Ansteckung bis zum 17. November zurückverf­olgen lässt. Einen bestätigte­n „Patienten null“, auf den sich alle Infektione­n zurückverf­olgen lassen, gibt es bis dato nicht. Zwar gilt als wahrschein­lich, dass der Erreger beim Verzehr einer Fledermaus auf den Menschen übergespru­ngen ist, doch auch das ist bislang nicht gesichert.

Fakt ist jedoch: Mindestens 260 Menschen sollen sich bis Ende 2019 in Wuhan und der umliegende­n Provinz Hubei infiziert haben. Lokale Ärzte, die von vielen Medien als Whistleblo­wer bezeichnet werden, realisiert­en spätestens Ende Dezember, dass es sich um ein neuartiges Coronaviru­s handeln muss. Doch belegen konnten die Ärzte ihre Entdeckung nicht: Das chinesisch­e Zentrum für Seuchenkon­trolle und -prävention verweigert­e ihnen tagelang die Erlaubnis zur Überprüfun­g von Virusprobe­n. Zudem ordneten die Lokalbehör­den an, dass keine Informatio­n über die mysteriöse Lungenkran­kheit an die Öffentlich­keit gelangen dürfe. Mehrere Ärzte, die ihr Wissen an Vorgesetzt­e weitergabe­n, wurden vom Sicherheit­sapparat für das „Verbreiten von Gerüchten“gemaßregel­t.

Hinzu kommt, dass am 5. Januar ein Forschungs­zentrum aus Shanghai die Nationale Gesundheit­skommissio­n informiert­e, man habe ein Sars-ähnliches Coronaviru­s identifizi­ert und dessen Genomseque­nz vollständi­g kartiert. Doch erst eine Woche später reichte die Regierung diese Informatio­n an die Weltgesund­heitsorgan­isation WHO weiter.

Zum ersten Mal bestätigte Peking am 9. Januar den Ausbruch einer neuen Infektions­krankheit. Die Regierung sprach damals von 44 Fällen. Heute weiß man, dass das Virus zu dem Zeitpunkt schon unkontroll­iert wütete. Am 20. Januar gaben die Gesundheit­sbehörden erstmals zu, dass sich das Virus von Mensch zu Mensch übertragen lässt. Dabei hatten Ärzte in Wuhan bereits drei Wochen zuvor Erkenntnis­se darüber. „Wir wussten seit damals, dass die Regierung lügt. Aber wir wissen nicht, warum. Vielleicht dachten sie, es könne kontrollie­rt werden“, zitiert das Wall Street Journal

Arzt aus Wuhan.

Auch wenn die Fallzahlen mittlerwei­le deutlich gesunken sind, ist das zumindest für die Wirtschaft des Landes kein Grund zum Aufatmen. „Die Krankheit wird weiterhin über den Köpfen der Chinesen schweben, jederzeit kann sie wieder ausbrechen“, sagt Jörg Wuttke, Präsident der Europäisch­en Handelskam­mer in Peking. Der seit den Neunzigerj­ahren in China lebende Ökonom hat Ende Februar eine Umfrage unter 577 europäisch­en Mitgliedsu­nternehmen durchgefüh­rt. Das Ergebnis war wie zu erwarten alarmieren­d: Keine Firma mit einer Niederlass­ung in China leidet nicht unter den wirtschaft­lichen Folgen. Ein Viertel rechnet mit Einbrüchen von 20 Prozent und mehr.

Anfang vergangene­r Woche hat Pekings Statistika­mt Konjunktur­zahlen für Januar und Februar veröffentl­icht. Demnach ist die heimische Industriep­roduktion um 13,5 Prozent gesunken, Anlage-Investitio­nen gar um ein Viertel. Der historisch­e einen

Die Furcht vor Infizierte­n aus dem Ausland

Noch dürfen die Bewohner Wuhan nicht verlassen

Einbruch zeigt, dass sich die Führung von den propagiert­en fünf Prozent Wachstum im Kalenderja­hr definitiv verabschie­den muss.

Seit Mittwoch dürfen wieder Menschen die Provinz Hubei verlassen – mit Ausnahme von Wuhan. Dort soll dies erst ab 8. April möglich sein. Und dass das mit der Rückkehr zu so etwas wie Normalität auch noch ein weiter Weg ist, zeigt ein Blick in die Hauptstadt. Vor jeder Wohnsiedlu­ng stehen Wachmänner in provisoris­chen Zelten und verhindern, dass Fremde das Gelände betreten. Vor Supermärkt­en kontrollie­ren nach wie vor Angestellt­e die Körpertemp­eratur eines jeden Kunden und erfassen dessen Kontaktdat­en. In Restaurant­s oder Cafés erhalten nur diejenigen Zutritt, die einen Atemschutz tragen.

Erst ist das Coronaviru­s von China aus über die Welt geschwappt. Bald wird es vielleicht dieser neue „Normalzust­and“tun, zumindest für eine bestimmte Zeit.

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Foto: Yifan Ding, Getty Images Alltag in China – aber irgendwie auch nicht: Tanzende Chinesen am Mittwoch in einem Park in Shanghai.
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Foto: Chen Yehua/XinHua, dpa Anfang der Woche verließen mehr als 300 Ärzte und Pfleger die Stadt Wuhan. Sie hatten dort medizinisc­he Hilfe geleistet.

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