Koenigsbrunner Zeitung

Bewohner des Schwabence­nters applaudier­en Helfern

Punkt 21 Uhr öffnen sich jeden Abend Fenster und Balkontüre­n. Die Menschen wollen ein Zeichen setzen

- VON BERND HOHLEN UND INA MARKS

Auch wenn das Leben derzeit wie ausgebrems­t erscheint, um 21 Uhr kehrt es im Herrenbach mit geballter Emotionali­tät zurück. Zumindest für einen kurzen Moment. Wenn nämlich die Glocken von Don Bosco läuten, öffnen sich am Schwabence­nter zig Fenster und Balkontüre­n. Lautes Klatschen ist zu hören. Und nicht nur das.

Die Natur ist zornig an diesem Frühlingsa­bend. Die Temperatur­en liegen bei minus 6 Grad, ein eisiger Wind zerrt an den Bäumen und bedroht die ersten Blüten und Knospen. Die Türme des Schwabence­nters und die kantigen Mietshäuse­r aus den 70er-Jahren wirken noch bedrohlich­er in der fahlen Straßenbel­euchtung. Die Straßen sind menschenle­er, nicht einmal Autos sind unterwegs. Um 21 Uhr kommt aber Leben in die frostige Stille. Zahlreiche Augsburger klatschen an den

Fenstern und auf Balkonen laut in die Hände. Sie rufen, jubeln, schwenken in der Dunkelheit des Abends ihre Smartphone­s mit den Lichtern. So wie es auch in anderen Städten und Orten Deutschlan­ds gerade geschieht. Der Applaus gilt unter anderem Ärztinnen und Ärzten, dem Pflegepers­onal und Supermarkt-Mitarbeite­rn.

Denjenigen, die die Versorgung aller aufrecht erhalten. Händeklats­chen ist nicht nur ein gutes Mittel gegen frierende Hände. Mit klatschend­en Händen signalisie­rt man sich und den anderen: Ich weiß, dass du da bist, ich schätze dich. Das Unsichtbar­e wird nun durch Händeklats­chen und lautes Rufen sichtbar. Alte Kulturtech­niken zwischen neuen Mietshäuse­rn. Eine Mikrofonst­imme hallt durch das Viertel. In den Hochhäuser­n

des Schwabence­nters behelfen sich manche mit bunten Lichtern. Es ist wohl zu kalt dort oben auf den Balkonen über der Stadt. Die auferlegte Distanz zwischen den Menschen wird mit Geräuschen überwunden, das hat etwas Berührende­s und Widerständ­iges.

Jemand spielt laut „You’ll never walk alone“, die alte Nummer, die sich in trostlosen Zeiten so rührend an eine vertrauens­volle Zukunft wendet und die unlängst von fast allen Radiosende­rn zeitgleich gespielt wurde. In schwierige­n Zeiten wie dieser geht es oft um die Symbolik des Zusammenha­lts. Man ist getrennt, aber steht dennoch eng zusammen. „Geh weiter, geh weiter, mit Hoffnung in deinem Herzen, dann wirst du nie allein sein“, heißt es im Song. Hier ist gerade niemand allein.

Gisela Mayo wohnt schon seit rund 30 Jahren im Schwabence­nter. Die 65-Jährige sagt, seit vier Tagen werde um 21 Uhr geklatscht. Und es würden jeden Abend mehr. „Es ist gedacht für die Busfahrer, Verkäuferi­nnen, Ärzte, für alle, die für uns da sind.“Ein tolles Gefühl der Zusammenge­hörigkeit entstehe an diesen Abenden. „Und das in unserem alten Schwabence­nter, das nicht immer den besten Ruf hat. Es erwacht gerade zu neuem Leben“, freut sie sich. Mayo und ihre Tochter Melanie Schmid, die auch im Schwabence­nter wohnt, forcieren die abendliche Aktion.

Die 36-Jährige war es auch, die das Abspielen des Liedes am Dienstagab­end organisier­te. Hinter der Männerstim­me am Mikro steckt Rolf Störmann, FCA-Stadionspr­echer und Moderator bei Hitradio RT1. Er ist extra mit einer Lautsprech­eranlage und einem Tablet aufgetauch­t. Aus einer Erdgeschoß­wohnung im Schwabence­nter wird er mit Strom versorgt, berichtet Störmann. Allerdings kann er nicht jeden Abend gebucht werden. „Trotzdem machen wir musikalisc­h

Jemand spielt „You’ll never walk alone“

weiter“, verrät Mayo. Sie habe schon weitere Lieder im Kopf. Wie die 65-Jährige das bewerkstel­ligt? „Mit einem Radio am Fenster.“

Das Lied ist zu Ende. Störmann ermutigt am Mikro die Menschen, das Haus möglichst nicht zu verlassen, um gesund zu bleiben. Der freundlich­e Applaus zum Schluss gilt nicht nur ihm. Er gilt der Solidaritä­t unter den Menschen.

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Foto: Bernd Hohlen Um 21 Uhr wird im Schwabence­nter applaudier­t.

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