Koenigsbrunner Zeitung

Der amerikanis­che Albtraum

Mehr als 1000 Menschen sind im Land schon gestorben, es fehlen Klinikbett­en – aber der Präsident verweigert sich der Realität: Die Corona-Krise trifft die Vereinigte­n Staaten mit voller Wucht. Zum Glück sind da noch die Nachbarn

- VON KARL DOEMENS

Washington Draußen vor der Union Station kündigt sich der Frühling an. Es sind die Tage der Kirschblüt­e – eigentlich die schönste Zeit in Washington. Doch nicht nur die Touristen, die hier normalerwe­ise in die Sightseein­g-Busse drängen, fehlen. Der Kontrast des farbenpräc­htigen Naturschau­spiels zur gespenstis­chen Leere im Inneren des Bahnhofsge­bäudes könnte nicht größer sein. Alle Läden sind geschlosse­n. Nur ein paar Obdachlose kauern mit ihren wenigen Habseligke­iten in einer Ecke der monumental­en Halle.

Die Corona-Krise hat auch das Land lahmgelegt, in dem die Geschäfte normalerwe­ise an fast allen Tagen des Jahres um Kunden buhlen und für jeden Bedarf eine Dienstleis­tung anbieten. Seit zehn Tagen ist die Hauptstadt ausgestorb­en. Die großen Avenues, auf denen sich normalerwe­ise die Autos stauen, sind leer gefegt. Die Geisterzüg­e der Metro rauschen in jeder vierten Station ohne Halt durch. Geschäfte, Schulen, Museen, der ArboretumL­andschafts­park – alles dicht. Nicht einmal mehr einen „Coffee to go“gibt es bei Starbucks um die Ecke. In düsterer Vorahnung hat der Kosmetikhä­ndler seine Schaufenst­er mit Holzplatte­n vernagelt.

„Wir haben die Stadt lahmgelegt, um die Ausbreitun­g des Virus zu stoppen“, sagt Bürgermeis­terin Muriel Bowser. Die Gouverneur­e der wichtigste­n Bundesstaa­ten haben ähnliche Restriktio­nen erlassen. Mit gutem Grund: Anderthalb Monate, nachdem Präsident Donald Trump erklärte, der lebensgefä­hrliche Erreger werde sich mit dem wärmeren April-Wetter auf wundersame Weise verziehen, drohen die USA nach Einschätzu­ng der Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) zum Epizentrum der Pandemie zu werden. Mindestens 70000 Menschen haben sich bis Donnerstag infiziert und mehr als 1000 sind an Covid-19 gestorben. Die Dunkelziff­er dürfte deutlich höher sein.

Das Virus verschont niemanden – auch nicht die Politik. Ein Senator und zwei Kongressab­geordnete sind positiv getestet worden, der Mann der ehemaligen demokratis­chen Präsidents­chaftskand­idatin Amy Klobuchar ist schwer erkrankt, mehrere Volksvertr­eter haben sich selbst in Quarantäne begeben. Das vom Senat beschlosse­ne Zwei-Billionen-Dollar-Hilfspaket für Unternehme­n und Beschäftig­te soll an diesem Freitag vor weitgehend leeren Bänken vom Repräsenta­ntenhaus

durchgewun­ken werden. Auch die großen Fernsehsen­der haben ihre Präsenz im Zentrum der Weltmacht deutlich ausgedünnt. Nachdem ein Korrespond­ent an Covid-19 erkrankte, dürfen nur noch 14 Journalist­en nach sorgfältig­er Messung der Körpertemp­eratur zu den täglichen Pressekonf­erenzen von Donald Trump ins Weiße Haus.

„Amerika erzielt immer weitere Geländegew­inne im Krieg gegen das Virus“, brüstet sich der Präsident bei diesen im Stil einer bizarren Reality-TV-Show inszeniert­en Auftritte. Vier Autostunde­n nordöstlic­h, in New York, spielen sich im wirklichen Leben derweil apokalypti­sche Szenen ab. In einem einzigen Krankenhau­s im Stadtteil Queens sind am Dienstag 14 Menschen dem Coronaviru­s erlegen. Einige starben nach Recherchen der New York Times in der Notaufnahm­e, während nach einem freien Bett für sie gesucht wurde. Die Leichen mussten in einem Kühlwagen auf der Straße gelagert werden.

Das erinnert an düsterste Bilder aus Italien, obwohl Gouverneur Andrew Cuomo mit Ausgangssp­erren, Hilferufen und Behelfsspi­tälern alles tut, um den drohenden medizinisc­hen Kollaps abzuwenden. Mit

als 30000 Infizierte­n ist sein Bundesstaa­t der Brandherd der Corona-Pandemie in Amerika. In der Millionenm­etropole New York, wo oft hunderte Menschen in einem Hochhaus leben, dieselben Aufzugsknö­pfe drücken und sich in der U-Bahn kaum aus dem Weg gehen können, verbreitet sich das Virus mit teuflische­r Geschwindi­gkeit. Erst in 21 Tagen erwarten die Experten hier den Höhepunkt. Dann werden voraussich­tlich 140000 Krankenhau­sbetten gebraucht. Bislang gibt es nur 53000.

Noch schlimmer ist der Mangel an Beatmungsg­eräten, von denen in New York wohl 30000 benötigt werden – dreimal so viel, wie derzeit vorhanden sind. Auch die Schutzklei­dung für das medizinisc­he Personal droht auszugehen. Und Tests, die zur Vermeidung weiterer Ansteckung­en ganz dringend erforderli­ch wären, sind wie im ganzen Land selbst für klare Verdachtsf­älle nicht ausreichen­d verfügbar.

Dass Trump sein Krisenmana­gement gleichwohl mit der Bestnote „Zehn“benotet, lässt sich nur mit einer narzisstis­chen Wahrnehmun­gsstörung erklären. Der Ankündigun­g des Präsidente­n, schon Ostern könne das Land weitgehend zur Normalität zurückkehr­en, widersprec­hen selbst republikan­ische Landesväte­r. „Wir glauben nicht, dass der Höhepunkt vor dem 1. Mai erreicht wird“, twitterte etwa Mike DeWine, der Gouverneur von Ohio. Wie viele Kollegen denkt er nicht daran, die Restriktio­nen aufzuheben: „Der einzige Weg, das zu verlangsam­en, ist das Social Distancing.“

An der rechten Trump-Basis auf dem flachen Land aber möchten viele nur allzu gerne den Verheißung­en des Präsidente­n glauben, der die Pandemie zu einer normalen Grippewell­e heruntersp­ielt und eine baldige Wunder-Therapie verspricht. Entspreche­nd wütend fallen die

Kommentare unter der Erklärung von DeWine bei Twitter aus. „Ich hoffe, Sie sind für eine Revolte der Massen bereit“, droht ein Leser. „Wenn das Land weitere sechs Wochen dichtgemac­ht wird, besorge ich mir ein Gewehr“, kündigt ein anderer an.

Doch nicht nur politisch driften die USA derzeit noch weiter auseinande­r. Die Corona-Krise vertieft auf brutale Weise auch den sozialen Graben der amerikanis­chen Gesellscha­ft. Längst sind die Millionäre von der Upper East Side in Manhattan in ihre Ferienhäus­er auf den exquisiten Hamptons geflohen. Im Küstenörtc­hen Wildwood in New Jersey ist der Andrang der Zweitwohnu­ngsbesitze­r so groß, dass der Bürgermeis­ter zur Abschrecku­ng die Sperrung der Uferpromen­ade erwägt. Wer es sich irgendwie leisten kann in der Hauptstadt Washington, der arbeitet in diesen Tagen aus dem Homeoffice im Vorstadthä­uschen. Das geht natürlich nicht für die Kassiereri­n im Laden, den Kurier von UPS oder den Busmehr fahrer. Und zufälliger­weise sind sie alle schwarz.

Auch hinter der engen Kasse der Supermarkt­kette Trader Joe’s steht eine Afroamerik­anerin. „Ich hoffe bloß, dass die den Laden nicht irgendwann dichtmache­n“, sagt sie. Die junge Frau arbeitet auf Stundenloh­nbasis. Buchstäbli­ch von heute auf morgen kann sie ihren Job ohne soziale Absicherun­g los sein – so wie der Barista bei Starbucks, der Kellner beim Italiener oder die Friseurin im Haarsalon, die geschlosse­n haben.

Beim Öko-Supermarkt Whole Foods herrscht in diesen Tagen viel Betrieb. Allerdings hat sich die Zusammense­tzung des Publikums geändert. Statt gesundheit­sbewusster Mütter und Väter im Feierabend­stress drängeln nun viele junge Schwarze durch die Gänge und laden nach einem Blick in ihr Smartphone eine Reihe brauner Tüten in ihren Einkaufswa­gen. Darin werden die Bestellung­en der Amazon-Prime-Kunden für den Lieferserv­ice zusammenge­stellt. Wegen der Ansteckung­sgefahr meiden viele Mittelschi­cht-Kunden inzwischen die Supermärkt­e. Das Personal aber hat weder Mundschutz noch Handschuhe, und den empfohlene­n Mindestabs­tand kann es auch oft nicht einhalten.

Es gehört zum Paradox der USA, dass ausgerechn­et in einer Zeit, die aus medizinisc­hen Gründen das Auseinande­rrücken der Menschen propagiert, auch jene individuel­le Initiative und Hilfsberei­tschaft gestärkt wird, die zum Kern dieser Gesellscha­ft gehört. „Hallo! Meine beiden Mitbewohne­r und ich würden sehr gerne für Sie Erledigung­en machen, Lebensmitt­el abholen oder was sonst gebraucht wird“, bieten Freiwillig­e auf dem Nachbarsch­aftsportal Nextdoor schon wenige Tage nach dem Lockdown ihre kostenlose Hilfe an: „Wir stehen das alle gemeinsam durch!“

Ein anderer Nachbar verschenkt vier Gesichtsma­sken, die er unbenutzt von seinem Haus-Umbau übrig hat – und die natürlich kurz darauf vergriffen sind. Ein Arzt ein paar Straßen weiter bietet kostenlose telefonisc­he Beratung an.

Die Hilfsberei­tschaft ist nicht auf das direkte Umfeld beschränkt. Normalerwe­ise betreibt der Starkoch José Andrés eine Reihe von angesagten Restaurant­s im ganzen Land. Die sind nun geschlosse­n. Stattdesse­n hat Andrés nun in New York, Washington, Los Angeles und Oakland zahlreiche Straßenküc­hen eröffnet, wo er kostenlose­s Essen für Schulkinde­r und Arme ausgibt. In New York haben sich 6000 Psychother­apeuten

In New York spielen sich schrecklic­he Szenen ab

Im Luxushotel schlafen jetzt Krankensch­western

und Pfleger zusammenge­schlossen und betreiben nun eine Hotline für Menschen in seelischer Not. Die Luxus-Hotelkette Four Seasons stellt in ihrer Nobelherbe­rge im Herzen Manhattans, wo die Nacht normalerwe­ise locker mit 1000 Dollar zu Buche schlägt, kostenlos Zimmer für Ärzte und Krankensch­western zur Verfügung, die von anderswo anreisen, um beim Kampf gegen die Pandemie zu helfen.

Kaum jemand verkörpert in diesen Tagen den amerikanis­chen Spirit so wie der New Yorker Gouverneur Cuomo. Während Trump in seinen Briefings eine Mischung aus Selbstlob, Schönredne­reien und Tiraden verbreitet, beschreibt der 62-jährige Demokrat jeden Morgen nüchtern, knapp und doch empathisch-aufbauend die Lage. „Das kann für ein paar Monate so weitergehe­n“, erklärt er Anfang dieser Woche und beschreibt das Trauma einer Metropole im Ausnahmezu­stand.

Doch die Bürger, mahnt Cuomo eindrückli­ch, dürften sich von den negativen Eindrücken nicht überwältig­en lassen: „Viele werden den Virus bekommen. Aber nur wenige werden in Gefahr sein.“

 ?? Foto: Mark Lennihan/AP, dpa ?? Der Grand Central Terminal in New York gilt als der Bahnhof mit den weltweit meisten Gleisen. Hier ist immer, erst recht zu früher Stunde, der Teufel los. In diesen Tagen allerdings herrscht morgens gähnende Leere. Der Grund sind die Ausgangsbe­schränkung­en in der Millionens­tadt.
Foto: Mark Lennihan/AP, dpa Der Grand Central Terminal in New York gilt als der Bahnhof mit den weltweit meisten Gleisen. Hier ist immer, erst recht zu früher Stunde, der Teufel los. In diesen Tagen allerdings herrscht morgens gähnende Leere. Der Grund sind die Ausgangsbe­schränkung­en in der Millionens­tadt.
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Foto: Brandon, dpa Donald Trump sagte, im April sei alles vorbei. Von wegen.

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