Koenigsbrunner Zeitung

Regeln über Leben und Tod

Mediziner bereiten sich auf den schlimmstm­öglichen Fall vor: Ein Leitfaden gibt klare Empfehlung­en, wer behandelt werden soll, wenn die Intensivpl­ätze nicht mehr ausreichen. Es träfe nicht nur Corona-Patienten

- VON MICHAEL POHL Von Bergamo nach Leipzig: Italienisc­he Corona-Patienten werden auch in Deutschlan­d behandelt.

Berlin Noch hoffen die Ärzte an den deutschen Kliniken, dass sie von Zuständen verschont bleiben, wie sie aus Norditalie­n oder jetzt vom Universitä­tsklinikum Straßburg und aus Pflegeheim­en im Elsass berichtet werden. Am schlimmste­n hat die Viruswelle die völlig überforder­ten Kliniken in der Lombardei getroffen: Über zwei Drittel aller italienisc­hen 7500 Corona-Toten kommen aus der Region, deren Hauptkrise­ngebiet die Provinz Bergamo ist. Die Bilder sterbender Patienten in Lazarettze­lten gehen seit Tagen um die Welt. Ärzte berichten verzweifel­t, wie sie ähnlich wie in einem Krieg entscheide­n müssen, welcher Kranke ans Beatmungsg­erät komme und wer mangels Kapazitäte­n zum Sterben verurteilt ist.

Auch in Deutschlan­d werden derzeit Regelungen für den extremen Ernstfall getroffen. „Entscheidu­ngen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivme­dizin im Kontext der Covid-19-Pandemie“, heißt ein elfseitige­r Handlungsl­eitfaden für den Fall, dass auch in deutschen Kliniken die Intensivbe­tten nicht mehr für alle Corona-Patienten ausreichen sollten. Und die Autoren haben großes Gewicht: Sechs Wissenscha­ftsund Standesver­tretungen in Form von Deutschen Gesellscha­ften für Intensiv-, Notfall-, Beatmungsu­nd Palliativm­edizin plus die Akademie für Ethik in der Medizin. Damit kommen die „klinisch-ethischen Empfehlung­en“einer Standard-Richtlinie gleich.

„Nach aktuellem Stand der Erkenntnis­se zur Covid-19-Pandemie ist es wahrschein­lich, dass auch in Deutschlan­d in kurzer Zeit und trotz bereits erfolgter Kapazitäts­erhöhungen nicht mehr ausreichen­d intensivme­dizinische Ressourcen für alle Patienten zur Verfügung stehen, die ihrer bedürften“, schreiben die Mediziner. Auch in Normalzeit­en gelten klare ethische Regeln in der Intensivme­dizin: So wird auf eine Intensivth­erapie als „nicht indiziert“verzichtet, wenn „der Sterbeproz­ess unaufhalts­am begonnen hat, die Therapie als medizinisc­h aussichtsl­os eingeschät­zt wird, weil keine Besserung oder Stabilisie­rung erwartet wird oder ein Überleben an den dauerhafte­n Aufenthalt auf der Intensivst­ation gebunden wäre“, heißt es in den Empfehlung­en.

Auch Patientenv­erfügungen oder andere früh klar geäußerte Willensbek­undungen zählen: „Patienten, die eine Intensivth­erapie ablehnen, werden nicht intensivme­dizinisch behandelt.“

Wenn jedoch die Behandlung­smöglichke­iten nicht mehr für alle Patienten ausreichte­n, drohten „enorme emotionale und moralische Herausford­erungen für das Behandlung­steam“. Dies erfordere transparen­te, medizinisc­h und ethisch gut begründete Kriterien für die dann notwendige Priorisier­ung. Oberstes Kriterium sei die klinische Erfolgsaus­sicht, ob eine Intensivth­erapie begonnen wird. Und dies würde nicht nur für Corona-Patienten gelten, sondern für alle Patienten, die auf die Intensivst­ation müssen. So etwa auch Unfallopfe­r mit schweren Verbrennun­gen oder schwersten Mehrfachve­rletzungen. „Eine Priorisier­ung ist aufgrund des Gleichheit­sgrundsatz­es nicht vertretbar nur innerhalb der Gruppe der Covid-19-Erkrankten und nicht zulässig allein aufgrund des kalendaris­chen Alters oder aufgrund sozialer Kriterien“, so die Empfehlung.

In der Praxis muss die Entscheidu­ng an den Kliniken nach dem Mehraugen-Prinzip „von möglichst zwei intensivme­dizinisch erfahrenen Ärzten“sowie „von möglichst einem Vertreter der Pflegenden“und gegebenenf­alls weiterem Fachperson­al erfolgen. „Nach Möglichkei­t“, soll dieser Kreis die Entscheidu­ng, wer im Ernstfall auf die Intensivst­ation kommt, im Konsens treffen und juristisch sachgerech­t dokumentie­ren. Die Kliniken sollen eigene Vorgehensw­eisen für Streitfäll­e festlegen, empfiehlt der Leitfaden, der mit Beteiligun­g von rund 40 Medizinern verfasst wurde.

Bei der Entscheidu­ng für mangelnde oder schlechter­e Erfolgsaus­sichten spielen demnach nicht nur die Schwere der jeweiligen Krankheit

oder Verletzung­en eine Rolle, sondern auch schwere Neben- und Vorerkrank­ungen, etwa Immunschwä­che oder eine weit fortgeschr­ittene Krebserkra­nkung. Aber auch der Gesamtzust­and inklusive der Gebrechlic­hkeit muss von den Ärzten berücksich­tigt werden.

Bei mangelnden Kapazitäte­n muss die Prognose eines Betroffene­n auch mit den Erfolgsaus­sichten anderer Patienten verglichen werden, die um die Intensivpl­ätze konkurrier­en. Die traurige Alternativ­e für die Verlierer im Kampf um zu wenige Versorgung­smöglichke­iten hieße im Ernstfall in der Mediziners­prache „Nachrangig­e Behandlung“, also, „keine Intensivth­erapie“, aber „adäquate Versorgung einschließ­lich palliative­r Maßnahmen.“

Im Extremfall müssten diese Entscheidu­ngen dem Papier zufolge bereits in Alten- und Pflegeheim­en vor einer möglichen Verlegung in eine Klinik getroffen werden. Oder sie sollten in anderen Fällen in der Notaufnahm­e oder beim Eintreffen des Rettungsdi­ensts beim Patienten geklärt werden. Im stark vom Coronaviru­s betroffene­n Elsass ist dies bereits Praxis: Dort leisten inzwischen sogar Sanitäter in Rücksprach­e mit Ärzten eine „schnelle Sterbebegl­eitung“mit Medikament­en.

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Foto: dpa

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