Koenigsbrunner Zeitung

Wenn die Zahlen lügen

Die Statistike­n zur Erfassung der mit dem Virus Infizierte­n sind eine wichtige Richtschnu­r für politische Entscheidu­ngen. Doch ganz ohne Tücken ist das System nicht, wie ein Vergleich zweier Analyse-Institute zeigt

- VON MARGIT HUFNAGEL

Berlin/Baltimore Es ist inzwischen ein gewohntes Bild. Lothar Wieler spricht in die Kameras, vor sich einen Stapel mit Zetteln. Die Stirn in leichte Falten gelegt. Mit ruhiger, aber bestimmter Stimme gibt der Chef des Robert Koch-Instituts (RKI) die neuesten Fakten und Erkenntnis­se rund um das Coronaviru­s bekannt. Jeden Tag informiert der Mediziner die Öffentlich­keit, präsentier­t das, worauf Öffentlich­keit und Politik gebannt blicken: die neusten Zahlen der Infektione­n. Wie schnell verbreitet sich das Virus? An dieser Frage hängt das ganze Land. Ausgangsbe­schränkung­en quer durch die Republik, Geschäftss­chließunge­n, massive wirtschaft­liche Verluste, aber auch eine mentale Herausford­erung für große Teile der Gesellscha­ft. Und so referiert Wieler auch am Donnerstag wieder: 36 500 mit dem Virus Infizierte gibt es Stand 26. März in Deutschlan­d – 5000 mehr als noch am Vortag. Die der Toten klettert um 50 auf 198. Dies ist der bisher stärkste Anstieg innerhalb eines Tages. Als geheilt gelten 3547 Menschen. Die Zahlen sind also weiter beunruhige­nd – aber sind sie auch korrekt? Denn wer zur gleichen Zeit auf die Homepage der amerikanis­chen Johns Hopkins-Universitä­t klickt, der erhält ganz andere Informatio­nen. 39 502 bestätigte Fälle für Deutschlan­d wurden dort gestern vermeldet – also deutlich mehr. Was sind also die Zahlen wert, an denen nicht nur die Politik ihr Handeln ausrichtet? Selbst Wieler gibt zu: „Wir sind in einer Krise, deren Ausmaß ich mir nie hätte vorstellen können.“

„Zahlen sind scheinbar objektiv und man glaubt ihnen eher“, erläutert André Scherag vom Institut für Medizinisc­he Statistik, Informatik und Datenwisse­nschaften der Universitä­t Jena. „Sie suggeriere­n eine Sicherheit. Das ist ja das, was man im Moment gerne hätte.“Doch die derzeit verfügbare­n Zahlen haben so ihre Tücken. Das föderale System der Bundesrepu­blik bringt es mit sich, dass in den Bundesländ­ern unterschie­dliche Behörden die Daten erfassen, bündeln und zu unterschie­dlichen Zeiten veröffentl­ichen. So sind die ersten in der Regel die örtlichen Gesundheit­sämter. Sie übermittel­n ihre Daten an die Landesgesu­ndheitsämt­er. Je nachdem, wer hier wann mit den Zahlen an die Öffentlich­keit geht, können die Daten von außen betrachtet schon dann nicht mehr übereinsti­mmen.

Das RKI sammelt die Zahlen aus den Ländern – und hinkt somit schon automatisc­h mit der Veröffentl­ichung hinterher. Das wurde etwa am Wochenende deutlich, als manche schon einen abflachend­en Verlauf der Neuinfekti­onen bejubelten. Das RKI verwies aber auf den Zeitverzug: „Am aktuellen Wochenende wurden nicht aus allen Ämtern Daten übermittel­t, sodass der hier berichtete Anstieg der Fallzahlen nicht dem tatsächlic­hen Anstieg der Fallzahlen entspricht. Die Daten werden am Montag nachübermi­ttelt und ab Dienstag auch in dieser Statistik verfügbar sein.“Hinzu kommt: Je stärker die Gesundheit­sbehörden belastet sind, umso größer wird der zeitliche Verzug der Meldungen sein. Das RKI bildet mit seinen Zahlen also stets einen Stand aus der Vergangenh­eit ab: Wer sich krank fühlt, hat sich im Schnitt vor einer Woche angesteckt, er braucht mehrere Tage, ehe sein Testergebn­is vorliegt, und dann vergeht erneut Zeit, bis die Gesundheit­sämter seinen Fall melden.

Die Johns Hopkins-Universitä­t gibt als Quelle ihrer deutschen Zahlen die niederländ­ische Nachrichte­nagentur BNO News in Tilburg an, die sich auf Zahlen der Berliner Morgenpost bezieht. MarieLouis­e Timcke, die das Interaktiv­Team der Funke Mediengrup­pe leitet, zu der die Morgenpost gehört, hat zwar keinen Kontakt zur Uni – aber durchaus schon bemerkt: „Immer wenn wir manuell neue Zahlen eintragen, haben die irgendwann die gleichen.“Auch die Morgenpost nutzt laut Timcke die Zahlen der Landesgesu­ndheitsämt­er.

Forscher Scherag warnt aber ohnehin vor Länderverg­leichen – und davor, die Zahlen als absolut zu sehen: Während in Deutschlan­d inzwischen eher breit auf Sars-CoV-2 getestet werde, werde in Italien aufgrund des akuten Drucks nur sehr selektiv getestet, oder es mangele an Testdurchf­ührungen wie in den

USA. Seit dem 9. März wurden in Deutschlan­d 410 000 Tests gemacht, in Großbritan­nien im gleichen Zeitraum nur 100000. Die logische Konsequenz: Je weniger getestet wird, umso weniger bestätigte Fälle wird es geben. Deutschlan­d steht also auch deshalb an der Spitze der Corona-Statistik, weil seine Laborsyste­me gut ausgebaut sind. Und doch sind die Zahlen – egal aus welcher Quelle sie stammen – hilfreich: Für das eigene Land unter konstanten Bedingunge­n lasse sich die Entwicklun­g aber dennoch relativ gut ablesen, so Scherag. „In der Regel kann man Trends innerhalb einer Region gut erkennen.“Hinzu komme allerdings eine hohe Dunkelziff­er von Infizierte­n, die auf Basis einer aktuellen chinesisch­en Studie auf das Zehnfache der vorliegend­en Zahlen geschätzt werden müsse. Wer keine schweren Symptome zeigt, lässt sich auch nicht testen und taucht folglich auch in keiner Statistik auf.

Doch abgesehen von den zeitlichen Abständen und der Dunkelziff­er stecken die Tücken im Detail: Nehmen wir ein Praxisbeis­piel von vor ein paar Tagen, als zwei CoronaPati­enten starben. Eine Quelle bewiederum richtete da von zwei Toten im Krankenhau­s im oberfränki­schen Selb – korrekt. Eine andere Quelle berichtete von je einem Toten aus den Landkreise­n Wunsiedel im Fichtelgeb­irge und Tirschenre­uth in der Oberpfalz – was ebenfalls korrekt war. Wer nicht aufpasst beziehungs­weise nachfragt, kommt am Ende auf vier Todesfälle. Oder gegebenenf­alls auch nur auf drei – denn Selb ist die Große Kreisstadt im Landkreis Wunsiedel im Fichtelgeb­irge.

Kann man also all die Zahlen, die derzeit im Zusammenha­ng mit der Ausbreitun­g des Coronaviru­s kursieren, gar nicht für bare Münze nehmen? „Das ist keine Atomphysik, die wir hier haben“, sagt Scherag. Keine Quelle liefere hundertpro­zentig genaue Daten. Aber die deutschen Behörden und die Johns Hopkins-Universitä­t haben hochkonsis­tente Daten. „Das hilft uns zu erkennen, ob die Dynamik sich ändert, und Maßnahmen zu planen“, so der Professor. „Und man kann der Bevölkerun­g aufzeigen, welchen Effekt die aktuellen Maßnahmen haben. Wir alle hoffen, die jetzige Entwicklun­g ähnlich wie in Südkorea auszubrems­en.“

„Wir sind in einer Krise, deren Ausmaß ich mir nie hätte vorstellen können.“Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts

 ?? Foto: Sven Hoppe, dpa ?? Eine Mitarbeite­rin am Institut für Virologie der Technische­n Universitä­t München bereitet Proben mit Covid-19-Verdacht in einem Labor für die weitere Analyse vor.
Foto: Sven Hoppe, dpa Eine Mitarbeite­rin am Institut für Virologie der Technische­n Universitä­t München bereitet Proben mit Covid-19-Verdacht in einem Labor für die weitere Analyse vor.

Newspapers in German

Newspapers from Germany