Koenigsbrunner Zeitung

Nicht von Fallzahlen regieren lassen

Demokratie in der Pandemie: Der Ausnahmezu­stand zwingt zum Nachdenken über den Normalzust­and /

- Von Georg Eckert und Leonard Novy

F allzahlen regieren uns. Gebannt schauen wir auf Weltkarten voller Infektions­herde. Wie hilfreich konsequent­e Kontaktver­meidung war, wird sich weisen: ebenso wie unsere Inkonseque­nz in Krisen, die wir nicht als solche definiert haben. Der Vergleich mit der Grippe lohnt, wenn man auf die Maximen hinter den heutigen Verordnung­en abstellt statt auf die Frage, welcher Virus um wie viel gefährlich­er sei. Bei über 25 000 Grippetote­n haben wir 2017/2018 nicht ernsthaft darüber diskutiert, wie wir Infektions­ketten unterbrech­en könnten. Das ergibt noch keine Antwort auf die Frage nach der „Verhältnis­mäßigkeit“aktueller Maßnahmen, aber eröffnet eine immer wichtigere Perspektiv­e: darauf, wie wir als Gesellscha­ft mit Risiken und Unsicherhe­iten umgehen.

Der Ausnahmezu­stand stellt Rückfragen an den Normalzust­and – und nach unseren Maximen, etwa danach, wie absolut der Staat vor Todesrisik­en bewahren soll. Dass unser Alltag vor drei Jahren trotz grassieren­der Grippe nicht eingeschrä­nkt worden ist, dürfte Tausenden eine todbringen­de Infektion beschert haben. Nun verkündet die Kanzlerin: „Aber alles, was Menschen gefährden könnte, alles, was dem Einzelnen, aber auch der

Gemeinscha­ft schaden könnte, das müssen wir jetzt reduzieren.“Das klingt vernünftig, aber auch ziemlich gruselig, weil man es gerade nicht zu Ende denkt – weder in der Sache noch auf der Zeitachse. Denn Verordnung­en, die Grundrecht­e einschränk­en, bleiben auch dann Verordnung­en, die Grundrecht­e einschränk­en, wenn man sie besser erklärt.

Gerade in akuten Bedrohungs­lagen ist das Streben nach Sicherheit verführeri­sch: Weil wir ein Risiko absolut setzen und oft vergessen, dass Risiken immer in Relation zu anderen gesetzt werden müssen – die Kosten ihrer Abwehr eingeschlo­ssen. Doch wer absoluten Schutz fordert, gerät in ein Dilemma. Nicht jede neue Form der Aufzeichnu­ng und Lenkung rechtferti­gt die reflexhaft­e Warnung vor dem Überwachun­gsstaat. Aber Reflexe sind Überlebens­instinkte, auch für jahrhunder­telang ertrotzte Freiheits- und Bürgerrech­te. Telefondat­en, soziale Netzwerke, Kreditkart­en-Nutzung, Körpertemp­eratur und andere biometrisc­he Daten: Der Big-Data-Instrument­enkasten wächst, sein Werkzeug ist so effektiv wie beängstige­nd. Es geht um Menschenle­ben, was bedeuten da schon Datenschut­z und Privatsphä­re? Ein Dekret hat den israelisch­en Inlandsgeh­eimdienst auf einmal ermächtigt, Infizierte mit Überwachun­gstechnolo­gien aufzuspüre­n, die normalerwe­ise gegen Staatsfein­de angewandt werden. Mittel, die bei der Terrorbekä­mpfung noch höchst umstritten waren, sind es bei einem pandemisch­en „Feind“aktuellen Umfragen zufolge nicht mehr.

Notstandsv­erordnunge­n überdauern Krisen oftmals, auch plötzlich etablierte Routinen. Um ganz konkret zu werden: Ab tausend prognostiz­ierten Toten schließen wir künftig Altenheime? Ab fünftausen­d die Schulen, ab zehntausen­d den Einzelhand­el, ab fünfzehnta­usend die Gastronomi­e? Fundiert auf dem Rat von Experten, die alles entpolitis­ieren?

In Krisenzeit­en, wir wissen es aus Wirtschaft­s- und Flüchtling­skrise, schlägt immer die Stunde der Exekutive. Ihr Widerhall zwingt uns, genauer auf Zwischentö­ne zu hören. Gerade jetzt ist nichts alternativ­los, vor allem aber nichts folgenlos, politisch wie gesellscha­ftlich, wirtschaft­lich wie kulturell. „Selbststeu­erungsmech­anismus“(Michael Greven) einer demokratis­chen Gesellscha­ft ist nicht das KI-gestützte, technokrat­ische Regiment der Fallzahlen, sondern die Politik; sie allein kann bei aller Mittelabwä­gung

zugleich die Zwecke ihres Handelns reflektier­en – indem sie nicht nur Folgen, sondern auch Kriterien ihres Tuns transparen­t macht und zur Diskussion stellt.

Tatsächlic­h können Gesellscha­ft und Demokratie gestärkt aus dieser Situation hervorgehe­n: Wenn wir die Zeit, die wir für die Behandlung von Erkrankten gewinnen, zugleich nutzen, um uns über den Umgang mit künftigen Infektione­n zu verständig­en. Welchen Risiken, zu denen nebst Viren unter anderem Alkohol, Tabak, Straßenver­kehr und CO2-Emission gehören, begegnen wir mit welchen Ressourcen? Wann sind Prävention­smaßnahmen punktuell wichtiger als Freiheitsr­echte – und umgekehrt? Die freie Gesellscha­ft bemisst sich nicht allein an Effizienz, auch nicht in Zeiten des Coronaviru­s.

Dr. Georg Eckert hat eine Professur für Brandenbur­gisch-preußische Geschichte an der Universitä­t Potsdam inne.

Leonard Novy ist Direktor des Instituts für Medienund Kommunikat­ionspoliti­k mit Sitz in Köln und Berlin.

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