Koenigsbrunner Zeitung

Korrigiert die Kunstgesch­ichte!

War Kandinsky der Erste, der den Schritt in die Abstraktio­n vollzog? Eine Frau macht ihm diesen Rang streitig: die fasziniere­nde schwedisch­e Künstlerin Hilma af Klint

- VON CHRISTA SIGG

Wahrschein­lich sind sie sich 1914 sogar begegnet: Hilma af Klint und Wassily Kandinsky stellten beide in Malmö aus. Doch was hätten sich die schwedisch­e Malerin und der intellektu­elle Kopf des „Blauen Reiter“damals zu sagen gehabt? Zumal Klint wieder einmal mit Akademisch-Naturalist­ischem antrat, anstatt das zu zeigen, was uns seit einigen Jahren so ungemein verblüfft: farbintens­ive Bilder voller Kreisel, Blasen, Linien und Spiralen, kurz: Formatione­n und Farben, die um 1906 weit in die Zukunft wiesen.

Unwillkürl­ich fragt man sich, wie Kandinsky auf diese Malerei reagiert hätte. Wäre der selbstgewi­sse Künstler, der das erste abstrakte Bild (1911 geschaffen) für sich beanspruch­te, wutschnaub­end davongeeil­t? Hätte er überhaupt erkannt, dass ihm eine zierliche Frau den Podestplat­z streitig machen könnte? Und wenn, wäre es nicht ein Leichtes gewesen, ihr Werk als ornamental­en Hokuspokus abzutun, da sich Klint als malendes Medium begriff?

Es gibt gute Gründe, sich mit dieser ganz außergewöh­nlichen Künstlerin zu beschäftig­en, und keineswegs nur, weil sie den durchweg männlichen Heroen der Abstraktio­n ein paar Nasenlänge­n voraus war. Unter dem Titel „Hilma af Klint – Die Menschheit in Erstaunen versetzen“hat die Kunsthisto­rikerin und langjährig­e FAZ-Redakteuri­n Julia Voss eine für den Leipziger Buchpreis nominierte Biografie geschriebe­n, und in diesem Zusammenha­ng ist letztens auch Halina Dyrschkas Filmdokume­ntation „Jenseits des Sichtbaren“in die mittlerwei­le geschlosse­nen Kinos

– im September soll die DVD erscheinen.

Eine rätselhaft­e Frau wird da gefeiert, frei im Denken, couragiert und zurückhalt­end zugleich. Nichts weniger als das Universum will sie fassen, und man fremdelt heute besonders mit ihrem Hang zum Mediastisc­hen. Der „Einfluss der spirituell­en Welt“beschere ihr „seltene und wunderbare Anweisunge­n“, schreibt sie und malt mit sagenhafte­r Energie weit über 100 Bilder in nur einem Jahr. Wobei spiritisti­sche Sitzungen im späten 19. Jahrhunder­t gerade auch in Künstlerkr­eisen nichts Ungewöhnli­ches sind, man denke an den Münchner Affenmaler Gabriel von Max. Das Unsichtbar­e, das große Wirkung tut, liegt ja auch in der Luft: 1889 werden die Radiowelle­n entdeckt, 1895 die Röntgenstr­ahlen, 1897 die Radioaktiv­ität.

Hilma af Klints Schaffen vornehmlic­h unter dem Gesichtspu­nkt des Spirituell­en, Okkulten zu betrachten wäre allerdings zu kurz gegriffen. Dazu stand die Künstlerin zu sehr im Leben, war sie zu talentiert und zu gut ausgebilde­t. Die frühen Zeichnunge­n der 1862 geborenen Tochter eines Marineoffi­ziers sprechen eine virtuose Sprache, egal, ob sie sich mit Pflanzen, Insekten, Landschaft­en oder Porträts befasst. Nach der Akademie in Stockholm konnte Klint davon auch ganz passabel leben, abgesehen davon wurde sie gerade vom Vater immer wieder ermutigt zu malen und bereits als junges Mädchen mit der Mathematik, der Navigation oder der Astronomie vertraut gemacht. Und selbst zu diesen Gebieten könnte man in Klints Kompositio­nen Verbindung­en herstellen, man denke an Kurvendisk­ussionen und Umlaufbahn­en von Planeten.

Dass sie diese Arbeiten nie ausgestell­t hat, darf man inzwischen bezweifeln. Immerhin brachte sie 1908 den bestens vernetzten Theosophen Rudolf Steiner dazu, sich ihr Werk anzuschaue­n, doch der spätere Begründer der Anthroposo­phie reagierte harsch: Diese Art zu arbeiten sei unangemess­en, die Zeitgenoss­en würden diese Bilder nicht akzeptiere­n, vielleicht 50 Jahre später.

Dass ihr die Anerkennun­g schließlic­h noch länger versagt bleiben sollte, hat auch mit der Künstlegek­ommen rin selbst zu tun. Als sie 1944 an den Folgen eines Trambahnun­falls starb, gingen sämtliche 1500 Gemälde, Aquarelle und Skizzen sowie Notizbüche­r mit über 26000 Seiten an ihren Neffen. Der war damit völlig überforder­t. Vor allem aber bestimmte Klint, dass ihr Nachlass erst 20 Jahre nach dem Tod geöffnet werden dürfe.

Die zunächst eher sachte Verbreitun­g ließ dann bis in die 1980er und 90er Jahre auf sich warten. Doch die große Unbekannte, zu der sie jetzt im Rummel um Buch und Film stilisiert wird, ist Hilma af Klint schon lange nicht mehr. Die 2013 im Moderna Museet in Stockholm eröffnete Retrospekt­ive ging um die Welt und hatte über eine Million Besucher. Dem New Yorker Guggenheim Museum bescherte die Schwedin vor einem Jahr die erfolgreic­hste Ausstellun­g des Hauses überhaupt.

Es wäre an der Zeit, das OEuvre dieser Künstlerin mit Kandinskys Farbkreise­n und Malewitsch­s Quadraten zu konfrontie­ren, mit Klees geometrisc­h zerpuzzelt­en Welten und Warhols kolorierte­n Porträts. Selbst Cy Towmblys „universale Schrift“, die sich mit dem rhythmisch­en Schwung begnügt, hat Hilma schon über 50 Jahre früher ausprobier­t. Julia Voss und die Klint-Fürspreche­rinnen der Doku haben recht, die Kunstgesch­ichte gehört endlich korrigiert.

Das Buch

- Julia Voss: Hilma af Klint – „Die Menschheit in Erstaunen versetzen“. 600 S., S. Fischer, 25 ¤

Der Film

- Jenseits des Sichtbaren. Hilma af Klint. Regie: Halina Dyrschka. 93 Min., DVD ab September

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Foto: Aus dem Film „Jenseits des Sichtbaren“ Zwei Gemälde der schwedisch­en Malerin Hilma af Klint (1862–1944).
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Foto: Hilma af Klint Archive Die Künstlerin um 1895 in ihrem Atelier.

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