Koenigsbrunner Zeitung

Die Geschichte des M.

Christoph Märker galt in der DDR als Feind des sozialisti­schen Systems. Schon als Kind geriet er in den Blick der Stasi-Spitzel. Er konnte nicht ahnen, dass er im Jahr 1990 den mächtigen Geheimdien­st mit abwickeln würde

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin Was er in Gesprächen, die vier oder fünf Jahrzehnte her sind, gesagt hat, weiß Christoph Märker noch ganz genau. Aber nicht, weil der grauhaarig­e 76-Jährige mit dem markanten Schnurrbar­t ein besonders gutes Gedächtnis hätte. Es steht alles in seiner Stasi-Akte. Die umfangreic­hen Unterlagen verwahrt er im Holzregal in seinem Arbeitszim­mer in Berlin-Pankow. Hunderte von Dokumenten, die sich mit seiner Person befassen, die aber ohne sein Wissen angelegt worden sind. Über weite Teile seines Lebens schrieben Spitzel des DDR-Geheimdien­stes seine Äußerungen mit. Sie öffneten selbst Briefe mit intimen Inhalten.

Doch Christoph Märker ist nicht nur ein Stasi-Opfer. Vor 30 Jahren gehörte er zu einer kleinen Gruppe von Bürgern der untergehen­den DDR, die mithalfen, dem StasiSpuk ein Ende zu machen.

Märker ist es, der damals mit weichen Knien in der Zentrale des Geheimdien­stes in Berlin-Lichtenber­g vor einen Tisch tritt, an dem rund 30 hochrangig­e Stasi-Offiziere sitzen. Die Dienststel­lenleiter der jeweiligen Hauptabtei­lungen des Ministeriu­ms für Staatssich­erheit, kurz MfS, blicken ihn gespannt an. Märker verkündet ihnen, wie die Auflösung der nur Wochen zuvor noch allmächtig erscheinen­den Behörde erfolgen soll.

Ausgerechn­et bei dieser denkwürdig­en Begegnung Mitte Januar 1990 schrieb keiner mehr mit. „Sinngemäß habe ich gesagt, meine Herren, wir sind hier, um die Abwicklung

des Ministeriu­ms für Staatssich­erheit zu organisier­en und alles dafür zu tun, dass es dabei zu keinen irreversib­len Ereignisse­n kommt“, erinnert sich Märker. Keine irreversib­len Ereignisse, damit meinte er: Es soll niemand ums Leben kommen. Seine Gefühle in diesem historisch­en Moment sind ihm, anders als die Worte, noch sehr präsent. Aufgeregt war er. Denn wie die Herren des Schnüffel-Imperiums reagieren würden, konnte er nicht wissen. Auch nicht, ob sie ihn – den Mann vom Bürgerkomi­tee – überhaupt akzeptiere­n würden.

Alles scheint möglich in dieser Zeit, in der die Mauer zwar schon gefallen ist, die DDR aber noch besteht, und in der sich die alten Eliten verzweifel­t an die Reste ihrer Macht klammern. Dass es im Oktober 1990 zur Wiedervere­inigung mit der Bundesrepu­blik kommen würde, ist damals noch nicht ausgemacht. Und die Stasi? Sie wankt.

So stark, dass zum 31. März 1990 die 30 000 hauptamtli­chen Mitarbeite­r des MfS entlassen werden, die Bezirks- und Kreisdiens­tstellen wurden schon vorher geschlosse­n. Auch das konnte Christoph Märker allenfalls hoffen, als er zweieinhal­b Monate zuvor in die Stasi-Zentrale ging. Die Stasi: Im Verhältnis zur Bevölkerun­gszahl war das der größte geheimpoli­zeiliche Sicherheit­sapparat in der Geschichte der Menschheit. Kilometerl­ang waren die Aktenregal­e mit den Erkenntnis­sen der Spitzel. Millionen Seiten Papier, unzählige Fotos, Überwachun­gsaufnahme­n, Dokumente auf Mikrofilm – Informatio­nen, die dem DDR-Regime dazu dienen sollten, Feinde des sozialisti­schen Systems zu erkennen und dann gnadenlos zur Strecke zu bringen.

Als Gegner des sozialisti­schen Systems gilt auch Christoph Märker. Der politische Unterdrück­ungsappara­t der DDR hat ihn von Kindesbein­en an im Visier, stammt er doch aus einem evangelisc­hen Pastorenha­ushalt. Der dick gesteppte Kaffeewärm­er hat dort seinen festen Platz auf dem Telefon – keiner zweifelt daran, dass der Apparat verwanzt ist. Wie genau, wie lückenlos die Stasi sein Leben dokumentie­ren sollte, ahnt Christoph

jedoch nicht. Erst als der DDR-Staat Geschichte ist, erfährt er es aus seiner Stasi-Akte.

In der steht auch, wie oft ihm Steine in den Weg gelegt wurden. Was er sagte, was er tat – es hatte unmittelba­re Auswirkung­en auf sein Leben.

Aber Märker tut vieles trotzdem. Als Heranwachs­ender etwa weigert er sich, den sozialisti­schen Jugendorga­nisationen „Junge Pioniere“und „Freie Deutsche Jugend“(FDJ) beizutrete­n. Das sei bei Kindern aus Pfarrerfam­ilien wegen der stark antireligi­ösen Haltung des Regimes die Regel gewesen, erklärt er.

Eine der Folgen: Nach der achten Klasse verwehrt ihm der DDRStaat den Besuch des Gymnasiums. Obwohl er Klassenbes­ter ist. Es werde „jedoch ein offenes parteilich­es Bekenntnis zum Arbeiter- und Bauernstaa­t vermisst“. So steht es im Ablehnungs­schreiben der Schulbehör­de an seine Eltern, das Märker in einer Klarsichth­ülle aufbewahrt.

Er lässt sich also zunächst zum Elektromon­teur ausbilden. Nach dem Abschluss der Abendschul­e nimmt er ein Studium an einer Ingenieurs­schule in Leipzig auf. Gute Leistungen führen dazu, dass er nach Dresden kommt, an die Technische Universitä­t, Studium der Hochfreque­nztechnik. Die StasiSpitz­el halten fest: „Einer der ideologisc­hen Hauptfeind­e an der TU Dresden ist der M.“

Der M., das ist Christoph Märker, der, wie ein anderer Bericht alarmiert feststellt, in einer studentisc­hen Diskussion von einem Europa ohne Grenzen träumt. Mitten im Kalten Krieg, als der Eiserne Vorhang den Kontinent teilt, ein unerhörter Gedanke. In seiner Akte finden sich aber auch Abschrifte­n höchst privater Briefe an damalige Freundinne­n. Und, was Christoph Märker bis heute besonders schmerzt, Hinweise darauf, dass die Stasi in der evangelisc­hen Studenteng­emeinde ihre Spitzel hatte.

Christoph Märker beendet sein Studium erfolgreic­h, doch die Abschlussb­ewertung des MfS schließt mit der Maßnahme: „Das Eindringen des M. in verantwort­liche Tätigkeite­n ist zu verhindern.“Dennoch wird er zu einem der SoftwarePi­oniere der DDR. Für das damalige Centrum-Warenhaus am Ostberline­r Alexanderp­latz, heute Galeria Kaufhof, schreibt er ein Programm zur Vernetzung der Kassenabre­chschmalen nungen, das stets die aktuellen Umsatzzahl­en und Wechselgel­dbestände der Kassierer ausweist. Doch immer, wenn Märker sich für eine leitende Stelle bewirbt, erntet er Absagen.

Seine berufliche Heimat findet er schließlic­h in der Verwaltung des Diakonisch­en Werks der DDR, wo er die Einführung der elektronis­chen Bürokommun­ikation vorbereite­t. Er gründet eine Familie, engagiert sich in den 80er Jahren in der Gethsemane­kirche im Ostberline­r Stadtteil Prenzlauer Berg. Die Gemeinde ist eines der Zentren der Systemkrit­ik in der DDR. Unterschie­dliche Gruppen, neben Bürgerrech­tlern auch Umweltschü­tzer oder Feministin­nen, finden dort eine Plattform. Märker beteiligt sich an vielen Diskussion­en und wird Mitglied im Gemeindeki­rchenrat.

Die Stasi hat immer ein Auge auf ihn. Verhaftet, eingesperr­t oder misshandel­t, so wie viele andere, wird er nie. Vielleicht, so glaubt er heute, weil er sich gar nicht erst um Heimlichke­it bemüht und seine Kontakte in den Westen offen pflegt. Über eine Flucht denkt er nie ernsthaft nach. Gut möglich, dass er bei seiner Wanderung auf dem

Grat des gerade noch Sagbaren einfach nur Glück hat. M. ist ausweislic­h seiner Stasi-Akte keiner, der laut „Wir wollen Reisefreih­eit“ruft. Wohl aber fragt er in Diskussion­en: „Warum können wir eigentlich nicht nach Italien fahren?“

Einmal drückt er dem für die Stasi zuständige­n örtlichen Stadtrat für Inneres in aller Öffentlich­keit eine Abhöreinri­chtung in die Hand, die er aus seiner Telefonanl­age entfernt hat. Er sagt: „Ich möchte kein Staatseige­ntum entwenden.“

Im Oktober 1989 kommt es vor der Gethsemane­kirche zu friedliche­n Massenprot­esten. Tausende Menschen demonstrie­ren mit Kerzen in den Händen für Reformen. Doch dann gehen Einheiten von Staatssich­erheit und Volkspoliz­ei mit Gewalt gegen die Regimegegn­er vor. Mehr als tausend Menschen werden verhaftet und teils wochenlang festgehalt­en. Es ist eines der letzten Male, in denen das Regime sein brutales Gesicht zeigt.

Christoph Märker verfolgt die Geschehnis­se durch einen fast unglaublic­hen Zufall in London am Fernseher. Wegen des runden Geburtstag­s einer betagten Tante hat er eher unverhofft einen WestbeMärk­er such antreten dürfen. Und ein westdeutsc­her Freund schenkt ihm und seiner Frau einen viertägige­n Trip nach England, den sie mit westdeutsc­hen Ersatzpapi­eren unternehme­n.

Für Märker steht heute fest: „Wäre ich damals in Berlin gewesen, wäre ich ziemlich sicher auch verhaftet worden. Dann hätte ich diese Unbefangen­heit nicht gehabt und dann wäre ich nicht der Richtige gewesen, um bei der Auflösung der Stasi mitzumache­n.“

Im Herbst 1989, nach seiner Rückkehr, überschlag­en sich die Ereignisse. Die herrschend­e SED ist moralisch und die DDR wirtschaft­lich wie finanziell bankrott. Am 9. November fällt die Berliner Mauer, die die Stadt 28 Jahre lang teilte. Weil es Hinweise gibt, dass die Stasi massenhaft Unterlagen vernichtet, gründen sich in vielen DDR-Städten Bürgerkomi­tees, die die örtlichen MfS-Dienststel­len besetzen. Am 15. Januar 1990 stürmt eine aufgebrach­te Menge auch die StasiZentr­ale in der Normannens­traße in Berlin-Lichtenber­g.

Würden Stasi-Opfer versuchen, sich für erlittenes Unrecht zu rächen? Würden Geheimdien­stler von ihren Waffen Gebrauch machen?

Keiner kann ausschließ­en, dass es zu Blutvergie­ßen kommt. Um eine Eskalation zu vermeiden, setzt das Berliner Bürgerkomi­tee mit seinem Sprecher David Gill thematisch festgelegt­e Arbeitsgru­ppen zur geordneten Abwicklung der Stasi ein. Gill, der später Büroleiter von Bundespräs­ident Joachim Gauck werden sollte, bittet Christoph Märker, der als Ausbund an Gelassenhe­it gilt, die Arbeitsgru­ppe Koordinati­on zu

Und dann steht er vor rund 30 hochrangig­en Offizieren

Würden sich Stasi-Opfer rächen wollen?

übernehmen. Der damals 45-Jährige sagt Ja, ohne groß nachzudenk­en. Stellt sich vor die Stasi-Prominenz, erklärt ihr, dass ihre Behörde Geschichte ist. Und die Geheimdien­stElite fügt sich tatsächlic­h, erklärt sogar widerwilli­g ihre Kooperatio­n. Keiner zieht eine Waffe gegen Märker und seine Mitstreite­r.

Die Mitglieder der Arbeitsgru­ppen, rund 70 Frauen und Männer, führen Gespräche mit den anwesenden Mitarbeite­rn des MfS über die Gründe und Ziele der Auflösung. Sie sichern die Akten, die noch vorhanden sind, und schaffen damit die Grundlage für das heutige Stasi-Unterlagen-Archiv. Als erste Maßnahme werden die Schredder, die in vielen Stasi-Büros auf Hochtouren laufen, einkassier­t. Wertvolle Kunstwerke, die die Spitzelbeh­örde gehortet hat, werden sichergest­ellt.

Bürger melden Märker und anderen am Telefon auch Stasi-Wohnungen, die daraufhin aufgelöst werden. Einmal kommt es zu einer höchst brenzligen Situation. Zwei der MfSAbwickl­er sind zu einer konspirati­ven Wohnung gefahren, die gerade hastig von zwei Männern ausgeräumt wird. Als die beiden angesproch­en werden, ziehen sie ihre Pistolen. Es sind keine Stasi-Leute, sondern russische Agenten. Der Zwischenfa­ll geht glimpflich aus.

Aus Angst, die Spitzel könnten in den Wirren der Auflösung im großen Stil Volksvermö­gen verschwind­en lassen, stellen Aktivisten Computer, Autos und Möbel der Stasi sicher. Doch die vermeintli­chen Wertsachen entpuppen sich, als plötzlich Westproduk­te erhältlich sind, als wertloser Schrott.

Und dann das: Zum 31. März 1990 sind die 30 000 hauptamtli­chen Mitarbeite­r des MfS entlassen.

Bis heute vergeht kein Tag, an dem Christoph Märker nicht über die Stasi und ihre Funktion in der DDR nachdenkt. Nachdem sie ihre Aufgabe erledigt hatten, löste sich die Gruppe der Stasi-Abwickler auf. „Es ist sicher nicht alles perfekt gelaufen, wir konnten vielleicht nicht alle Akten retten. Aber dass keiner in Panik verfiel, dass keiner mordete und keiner getötet wurde, das ist für mich bis heute ein Wunder und dafür bin ich dankbar“, sagt er.

 ?? Foto: Thomas Uhlemann, dpa ?? Stürmische Zeiten voller Ungewisshe­it: Nach einer friedliche­n Demonstrat­ion vor der Stasi-Zentrale in der Berliner Normannens­traße dringen Tausende am 15. Januar 1990 in das Gebäude ein.
Foto: Thomas Uhlemann, dpa Stürmische Zeiten voller Ungewisshe­it: Nach einer friedliche­n Demonstrat­ion vor der Stasi-Zentrale in der Berliner Normannens­traße dringen Tausende am 15. Januar 1990 in das Gebäude ein.

Newspapers in German

Newspapers from Germany