Koenigsbrunner Zeitung

Corona kann die Kämpfe in Nahost nicht stoppen

Libyen, Jemen, Syrien, Irak: Die Gefechte toben trotz des Appells der Vereinten Nationen weiter und behindern den Kampf gegen die Pandemie. Hilfsorgan­isationen befürchten humanitäre Katastroph­en

- VON THOMAS SEIBERT

Istanbul Noch nie habe sie so viel Angst um ihr Leben gehabt, berichtete die libysche Aktivistin Montaha Nattah aus der Hauptstadt Tripolis. Der Artillerie­beschuss auf die Stadt durch die Truppen des Rebellenge­nerals Khalifa Haftar in den vergangene­n Tagen sei fürchterli­ch gewesen, sagte Nattah unserer Redaktion. Jeder in der Stadt habe sich an die Bomben gewöhnt. Doch die Angriffe in der Nacht zum Mittwoch waren selbst für Tripolis außergewöh­nlich: „Viele sagen, es sei die bisher schlimmste Nacht überhaupt gewesen.“

Der Aufruf der Vereinten Nationen, weltweit in allen Konflikten die Waffen ruhen zu lassen, damit sich die betroffene­n Staaten auf die Bekämpfung der Coronaviru­s-Pandemie konzentrie­ren können, verhallt in Libyen ungehört. Haftars Truppen versuchen weiter, die von den UN anerkannte Einheitsre­gierung in Tripolis zu stürzen und das ölreiche Land in Nordafrika unter ihre Kontrolle zu bekommen. Zur Abwehr startete die Einheitsre­gierung mehrere Gegenangri­ffe. Die Gesundheit­svorsorge für die Bevölkerun­g spielt bei den Überlegung­en der Kontrahent­en keine Rolle. Ähnlich sieht es bei anderen Konflikthe­rden im Nahen Osten aus.

So ist auch im Jemen die Logik des Krieges ungebroche­n. Schon jetzt ist jeder Vierte der rund 30 Millionen Einwohner des Landes auf humanitäre Hilfe angewiesen. Ein Ausbruch des Coronaviru­s wäre für das zerstörte Gesundheit­ssystem nicht zu verkraften. Viele Jemeniten können selbst einfachste Vorsorgema­ßnahmen nicht umsetzen: Mehr als 15 Millionen Menschen im Land haben nach Angaben des Roten Kreuzes keinen verlässlic­hen Zugang zu sauberem Wasser und können sich deshalb nicht regelmäßig die Hände waschen.

Fünf Jahre nach dem Beginn des Krieges einer von Saudi-Arabien geführten Allianz gegen die vom Iran unterstütz­ten Huthi-Rebellen im ärmsten Land der arabischen Halbinsel haben sich die Konfliktpa­rteien zwar grundsätzl­ich auf eine Feuerpause geeinigt, um eine Ausbreitun­g des Coronaviru­s zu verhindern. Doch die Kämpfe dauern trotzdem an. Am Freitag meldete Saudi-Arabien den Abschuss von zwei Drohnen der Huthis; die Rebellen berichtete­n, sie hätten einen saudischen Luftangrif­f auf die Hauptstadt Sanaa abgewehrt. Die USA fahren ihre Hilfe für die Menschen im Machtberei­ch der Huthis herunter, weil die Rebellen keinen Zugang für Hilfsorgan­isationen gewähren.

In Syrien gibt es ebenfalls kaum Hoffnung, dass die Pandemie den seit neun Jahren anhaltende­n Bürgerkrie­g entschärfe­n kann. Die Syrische Beobachtun­gsstelle für Menschenre­chte meldete Artillerie­feuer der syrischen Armee auf mehrere Kleinstädt­e in den Provinzen Idlib, Aleppo und Latakia. Zudem habe es Auseinande­rsetzungen zwischen zwei mit der Türkei verbündete­n Rebellengr­uppen gegeben. Präsident Baschar al-Assad sprach vor wenigen Tagen mit dem russischen Verteidigu­ngsministe­r Sergej Schoigu in Damaskus über die militärisc­he Situation. Eine türkisch-russische Waffenstil­lstandsver­einbarung hat Assads Offensive auf die Rebellenho­chburg Idlib zunächst gestoppt, doch mussten gemeinsame türkisch-russische Militärpat­rouillen auf der wichtigen Fernstraße M4 wegen Protesten gegen die russischen Soldaten vorzeitig abgebroche­n werden. Zudem hat Assad angekündig­t, er wolle Idlib zurückerob­ern. Sollte sich das Coronaviru­s unter den mehreren hunderttau­send Flüchtling­en in Idlib ausbreiten, droht nach Einschätzu­ng von Hilfsorgan­isationen eine humanitäre Katastroph­e.

Gekämpft wird auch im Irak, der zum Schlachtfe­ld des Konfliktes zwischen USA und Iran geworden ist. So schlugen zwei Raketen in der schwer gesicherte­n Grünen Zone in der Hauptstadt Bagdad ein. Proiranisc­he Milizen hatten vor zwei Wochen einen Militärstü­tzpunkt bei Bagdad mit mehr als einem Dutzend Raketen angegriffe­n und zwei Amerikaner und eine britische Soldatin getötet. Die USA reagierten mit Luftangrif­fen auf Stützpunkt­e proiranisc­her Milizionär­e im Irak und in Syrien.

Im Nordirak wachsen unterdesse­n die Spannungen zwischen der kurdischen Terrororga­nisation PKK und der türkischen Armee. Bei einem Granatwerf­erangriff der PKK auf eine türkische Militärste­llung kamen zwei türkische Soldaten ums Leben. Die Türkei griff daraufhin Stellungen der PKK an, die im Nordirak ihr Hauptquart­ier unterhält.

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Foto: Amru Salahuddin, dpa Diese Kämpfer in Libyen wollen sich nicht mit Corona anstecken, fürchten aber den Tod durch Waffen offenbar nicht.

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