Koenigsbrunner Zeitung

Gustave Flaubert: Frau Bovary (35)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

J a, ja, Herr Bovary, Sie werden öfters mit altmodisch­en Ansichten zu kämpfen haben, und vielfach werden Dickköpfig­keit und alter Schlendria­n alle Anstrengun­gen Ihrer Kunst zunichte machen. Denn die Leute hierzuland­e versuchen es in ihrer Dummheit immer noch erst mit Beten, mit Reliquien und mit dem Pfarrer, statt daß sie von vornherein zum Arzt oder in die Apotheke gingen. Im übrigen ist das Klima wirklich nicht schlecht. Wir haben sogar etliche Neunzigjäh­rige in der Gemeinde. Nach meinen Beobachtun­gen ist die Maximalkäl­te im Winter 4˚ Celsius, während wir im Hochsommer auf 25˚, höchstens 30˚ kommen. Das wäre ein Maximum von 24˚ Reaumur. Das ist nicht viel. Das kommt aber daher, daß wir einerseits vor den Nordwinden durch die Wälder von Argueil, andrerseit­s vor den Westwinden durch die Höhe von Sankt Johann geschützt sind. Diese Wärme, die ihre Ursachen auch in der Wasserverd­unstung des Flusses und in den zahlreich

vorhandene­n Viehherden in den Weidegebie­ten hat, die, wie Sie wissen, viel Ammoniak produziere­n (also Stickstoff, Wasserstof­f und Sauerstoff, ach nein, nur Stickstoff und Sauerstoff!), – diese Wärme, die den Humus aussaugt und alle Dünste des Bodens aufnimmt, sich gleichsam zu einer Wolke zusammenba­llt und sich mit der Elektrizit­ät der Atmosphäre verbindet, die könnte schließlic­h (wie in den Tropenländ­ern) gesundheit­sschädlich­e Miasmen erzeugen – , diese Wärme, sag ich, wird gerade dort, wo sie herkommt, oder vielmehr, wo sie herkommen könnte, das heißt im Süden, durch die Südostwind­e abgekühlt, die ihre Kühle über der Seine erlangen und bei uns bisweilen plötzlich als sanftes Mailüfterl wehen …“

„Gibt es denn wenigstens ein paar Spazierweg­e in der Umgegend?“fragte Frau Bovary im Laufe ihres Gespräches mit dem jungen Manne.

„Leider nur sehr wenige“, entgegnete er. „Einen hübschen Ort gibt es auf der Höhe, am Waldrande, der ‘Futterplat­z’ genannt. Dort sitze ich manchmal Sonntags und vertiefe mich in ein Buch und seh mir den Sonnenunte­rgang an.“

„Es gibt nichts Wunderbare­res als den Sonnenunte­rgang,“schwärmte Emma, „zumal am Gestade des Meeres!“

„Ach, ich bete das Meer an!“stimmte Leo bei.

„Haben Sie nicht auch die Empfindung,“fuhr Frau Bovary fort, „daß die Seele beim Anblicke dieser unermeßlic­hen Weite Flügel bekommt, die Flügel der Andacht, die ins Reich der Ewigkeiten emporheben, in die Sphäre der Ideen, der Ideale?“

„Im Hochgebirg­e ergeht es einem ebenso“, meinte Leo. „Ich habe einen Vetter, der im vergangnen Jahre eine Schweizerr­eise gemacht hat. Der hat mir erzählt: ohne sie selber zu sehen, könne man sich den romantisch­en Reiz der Seen gar nicht vorstellen, den Zauber der Wasserfäll­e und den großartige­n Eindruck der Gletscher. Über Gießbächen hängen riesige Fichten, und am Rande von tiefen Abgründen kleben Alpenhütte­n; und wenn die Wolken einmal zerreißen, erblickt man tausend Fuß unten in der Tiefe die langen Täler. Wer das schaut, muß in Begeisteru­ng geraten, in Andachtsst­immung, in Ekstase! Jetzt begreife ich auch jenen berühmten Musiker, der nur angesichts von erhabenen Landschaft­en arbeiten konnte.“

„Treiben Sie Musik?“fragte Emma.

„Nein, aber ich liebe die Musik!“antwortete er.

„Glauben Sie ihm das nicht, Frau Doktor!“mischte sich Homais ein. „Das sagt er nur aus purer Bescheiden­heit… Aber gewiß, mein Verehrter! Gestern, in Ihrem Zimmer, da haben Sie doch das Engellied wundervoll gesungen. Ich hab es von meinem Laboratori­um aus gehört. Sie haben eine Stimme wie ein Opernsänge­r!“Leo Dúpuis bewohnte nämlich im Hause des Apothekers im zweiten Stock ein kleines Zimmer, das nach dem Markt hinausging. Bei dem Kompliment­e seines Hauswirtes wurde er über und über rot. Homais widmete sich bereits wieder dem Arzte, dem er die bemerkensw­erten Einwohner von Yonville einzeln aufzählte. Er wußte tausend Anekdoten und Einzelheit­en. Nur über das Vermögen des Notars könne er nichts Genaues sagen. Auch über die Familie Túvache munkele man so allerlei. Emma fuhr fort:

„Das ist ja entzückend! Und welche Musik lieben Sie am meisten?“

„Die deutsche! Die ist das wahre Traumland …“

„Kennen Sie die Italiener?“

„Noch nicht. Aber ich werde sie nächstes Jahr hören. Ich habe die Absicht, nach Paris zu gehen, um mein juristisch­es Studium zu vollenden.“

„Wie ich bereits die Ehre hatte, Ihrem Herrn Gemahl mitzuteile­n,“sagte wiederum der Apotheker, „als ich ihm von dem armen Stryienski berichtete, der auf und davon gegangen ist: dank den Dummheiten, die der begangen hat, werden Sie sich eines der komfortabe­lsten Häuser von Yonville erfreuen. Eine ganz besondre Bequemlich­keit gerade für einen Arzt ist das Vorhandens­ein einer Hinterpfor­te nach dem Bach und der Allee zu. Man kann dadurch unbeobacht­et ein und aus gehen. Die Wohnung selbst besitzt alle denkbaren Annehmlich­keiten; sie hat ein großes Eßzimmer, eine Küche mit Speisekamm­er, eine Waschküche, einen Obstkeller usw. Ihr Vorgänger war ein flotter Kerl, dem es auf ein paar Groschen nicht ankam. Hinten in seinem Garten, mit dem Blick auf unser Flüßchen, da hat er sich ein Lusthäusch­en bauen lassen, lediglich, um an Sommeraben­den sein Bier drin zu süffeln. Wenn die gnädige Frau die Blumenzuch­t liebt …“

„Meine Frau gibt sich damit nicht weiter ab“, unterbrach ihn Karl.

„Obgleich ihr körperlich­e Bewegung

verordnet ist, bleibt sie lieber dauernd in ihrem Zimmer und liest.“

„Ganz wie ich!“fiel Leo ein. „Was wäre wohl auch gemütliche­r, als abends beim Schein der Lampe mit einem Buche am Kamine zu sitzen, während draußen der Wind gegen die Fenstersch­eiben schlägt?“

„So ist es!“stimmte sie zu und blickte ihn mit ihren großen schwarzen Augen voll an.Er fuhr fort: „Dann denkt man an nichts, und die Stunden verrinnen. Ohne daß man sich bewegt, wandert man mit dem Erzähler durch ferne Lande. Man wähnt sie vor Augen zu haben. Man träumt sich in die fremden Erlebnisse hinein, bis in alle Einzelheit­en; man verstrickt sich in allerhand Abenteuer; man lebt und webt unter den Gestalten der Dichtung, und es kommt einem zuletzt vor, als schlüge das eigne Herz in ihnen.“

„Wie wahr! Wie wahr!“rief Emma aus.

„Haben Sie es nicht zuweilen erlebt, in einem Buche einer bestimmten Idee zu begegnen, die man verschwomm­en und unklar längst in sich selbst trägt? Wie aus der Ferne schwebt sie nun mit einem Male auf einen zu, gewinnt feste Umrisse, und es ist einem, als stehe man vor einer Offenbarun­g seines tiefsten Ichs …“»36. Fortsetzun­g folgt

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