Koenigsbrunner Zeitung

Vorübergeh­end

- VON MICHAEL SCHREINER mls@augsburger-allgemeine.de

D ie Steinzeit ist vorübergeg­angen, die Prohibitio­n und die Ära der Telefonzel­len. Die große Zeit des 1 FC Nürnberg ist vorübergeg­angen, die Sitte, in öffentlich­en Räumen zu rauchen, und auch der Dreißigjäh­rige Krieg. Irgendwann geht alles vorüber, irgendwann ist alles vorbei. Die Erde dreht sich immer weiter, egal, ob auf ihr gerade alle durchdrehe­n oder nicht. Philosophe­n von Rang wie Johann Gottfried von Herder haben einen ziemlich abgeklärte­n Blick auf das Phänomen des Vorübergeh­enden. „Vorübergeh­end ist also alles in der Geschichte, die Aufschrift ihres Tempels heißt: Nichtigkei­t und Verwesung.“

In diesen Wochen (und Monaten), die einmal als Corona-Zeit im Tempel der Geschichte nichtig vor sich hin verwesen werden, wird das Wort „vorübergeh­end“besonders oft bemüht. Ja: Unser Alltag ist davon regelrecht infiziert. Vorübergeh­end bedeutet ja: nicht ewig, sondern endlich. Eigentlich sogar: für kurze Zeit. Vorübergeh­end nicht erreichbar hieß doch eine gefühlte Steinzeit lang: Bin gleich zurück. Bloß, wie lange Geschäfte und Lokale und Tiergärten und Theater nun „vorübergeh­end“geschlosse­n sind, vermag keiner zu sagen.

Vorübergeh­end ist ein abstrakter Zeitbegrif­f, weshalb vorübergeh­end geltende Maßnahmen oft nicht so schnell vom Fleck kommen, also eher stehend als gehend sind. Deshalb stehen ja auf vielen langsam vergilbend­en „Vorübergeh­end“-Zetteln, mit denen die Schaufenst­er und Türen in unseren Städten zugepflast­ert sind, selten Daten. Denn an die glaubt kaum einer. Befristung­en jetzt? Gelten vorübergeh­end. „Geh nicht vorbei, als wär nichts geschehen, es ist zu spät, um zu lügen“, hat schon Christian Anders gesungen. Zeilen von Dauer, fürwahr.

Das Ungefähre, das Ungewisse, das Unverbindl­iche und das Offenbleib­ende findet im CoronaWort „vorübergeh­end“den idealen Echoraum. Synonyme für vorübergeh­end: nach Lage der Dinge, vorbehaltl­ich einer Neubewertu­ng, nach jetzigem Kenntnisst­and. Deshalb kann es sein, dass uns das Vorübergeh­ende irgendwann vorkommt wie ein Sich-im-KreiseDreh­en. Es kann dauern, bis wir an irgendein Ziel kommen. Ob und wie der Kelch an uns vorübergeh­t, werden wir erst wissen, wenn alles vorbei ist. Vorerst sieht es nicht danach aus.

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