Koenigsbrunner Zeitung

Die Treppenhau­s-Vorleserin

Anna Mußmann-Gagnidze liest täglich für die Kinder ihres Wohnblocks. Wir suchen noch mehr solcher Mutmacher-Menschen

- VON LEONHARD PITZ

Es ist kurz vor 16 Uhr in einem Treppenhau­s in Göggingen. Dort sitzen gespannt ein paar Kinder auf den Stufen. Sie warten auf Anna Mußmann-Gagnidze. Ein paar Minuten später sitzt die 49-jährige Berufsschu­llehrerin in eine rote Decke gehüllt in einem Sessel und liest ihren Nachbarski­ndern vor. Mit ihrem Vorlese-Nachmittag verschafft sie den Eltern und Kindern in ihrem Haus in Zeiten von Corona eine Verschnauf­pause im Kampf gegen Langeweile und Lagerkolle­r.

Angesichts der Schul-und KitaSchlie­ßungen habe sie sich gefragt, wie sie ihren Nachbarn helfen könne. „Es ist so eine schwierige Zeit, man braucht einfach ein bisschen Unterstütz­ung mit kleinen Kindern“, sagt Mußmann-Gagnidze. Ihre eigenen Kinder können sich mit 14 und 18 Jahren selbst beschäftig­en, mit jüngeren Kindern sei das nicht so einfach. „Da hat man keine ruhige Minute, die fordern einen rund um die Uhr“, sagt sie.

Die Augsburger­in beschloss, den Nachbarski­ndern nachmittag­s im Treppenhau­s vorzulesen. „Damit die ein bisschen Spaß haben, die sind ja noch sehr klein, das ist schwierig für die Eltern“, sagt Anna Mußmann-Gagnidze. Natürlich mache sie das Vorlesen nicht nur für die Nachbarski­nder und deren Eltern, sondern auch für sich selbst. Denn als Lehrerin am Berufschul­zentrum kann sie ihren Schülern zurzeit nur online Aufgaben stellen. Umso mehr hat die 49-jährige Spaß, sich jeden Tag in ihrem „Märchentan­tenmantel“in ihren gelben Sessel vor der Wohnungstü­r im ersten Stock zu setzen und den Kindern vorzulesen.

Ihre kleinen Zuhörer sind zwischen zwei und zwölf Jahre alt. In den vergangene­n Tagen hat Anna Mußmann-Gagnidze ihnen Märchen vorgelesen, die der Gebrüder Grimm und aus ihrer Heimat Georgien. Neulich, erzählt die engagierte Frau, hätten die Kinder dann noch die Figuren aus den Märchen gemalt und die Bilder anschließe­nd im Treppenhau­s aufgehängt.

Mit der Freizeitbe­schäftigun­g schafft Anna Mußmann-Gagnidze Eltern und Kindern aus den Nachbarwoh­nungen eine Auszeit. Die Eltern seien dankbar für ihr Engagement. „Ich habe sogar Pralinen von einer Mutter bekommen, das ist unglaublic­h.“Nachbarin Magdalena Kligers ist begeistert von der Aktion. „Es ist super, dass unsere Tochter ein bisschen was hat, worauf sie sich freuen kann. Normalerwe­ise macht man ja alles mögliche, Ballett, Schlittsch­uhlaufen, das ist jetzt alles abgesagt.“Für sie selbst bedeute die Vorlesezei­t eine Dreivierte­lstunde Pause von der Doppelbela­stung mit Homeoffice und einem kleinen Kind. Den Vorlese-Service empfindet Kliger als Erleichter­ung.

Seit einigen Tagen läuft die Vorleseakt­ion nun. „Ich mache das solange, wie wir diese Ausgangsbe­schränkung­en haben.“Die Vorleserin ist gerüstet: Für die nächste Zeit liegen schon „Tom Sawyer“sowie „Charlie und die Schokolade­nfabrik“bereit.

OAktion Wir stellen in den nächsten Tagen immer wieder Mutmacher-Menschen vor, die sich in der Krise außergewöh­nliche Dinge einfallen lassen, um anderen zu helfen. Wenn Sie einen solchen Menschen kennen oder selbst einer sind, melden Sie sich unter lokales@augsburger-allgemeine.de und sagen sie uns, was diese Personen für Sie zu Mutmacher-Menschen macht.

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Foto: Klaus Rainer Krieger Anna Mußmann-Gagnidze liest im Treppenhau­s vor.

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