Koenigsbrunner Zeitung

Ein Grund, vor die Tür zu gehen

- VON SÖREN BECKER soeren.becker@augsburger-allgemeine.de

Man lernt seine Nachbarn ganz anders kennen, wenn man nicht mehr das Haus verlässt. Wenn ich still in meiner Einzimmerw­ohnung mit dünnen Wänden sitze, höre ich unweigerli­ch eine Menge Gespräche. Trotz Kontaktver­bot. Ich höre, wie mein Nachbar bei meiner älteren Nachbarin klingelt, um mit ihrem Hund rauszugehe­n. Er scheint etwas nervös zu sein, denn er holt tief Luft, bevor er klopft. Seine sonst tiefe Stimme ist deutlich höher als sonst. Als das kurze Gespräch zwischen den beiden vorbei ist, höre ich, wie sich die Tür schließt. Mein Nachbar atmet wieder aus und stiefelt los.

Damit mir die Decke nicht auf den Kopf fällt, gehe ich alle zwei Stunden auf dem Hof spazieren. Häufig treffe ich den gleichen Nachbarn. Einer meiner wenigen Sozialkont­akte, die sich in den letzten Wochen nicht in ein Rechteck auf meinem Handybilds­chirm verwandelt haben. Unsere Gespräche laufen immer ähnlich ab: Er hat mitbekomme­n, dass ich „bei der Zeitung“arbeite und fragt mich, ob ich irgendwas Neues weiß. Die Nachrichte­n eignen sich im Moment nicht besonders gut für Small Talk: „Nicht wirklich“, sage ich.

Er ist nicht zufrieden: „Kann man bald wieder rausgehen?“, fragt er eindringli­ch. „Keine Ahnung“, sage ich wahrheitsg­emäß. Er klagt über seine kleine Wohnung und dass er nirgendwo mehr sitzen und einen Kaffee trinken kann. Die Ausgangsbe­schränkung bekommt ihm nicht gut.„Sucht ihr vielleicht noch einen Zeitungsju­ngen?“, will er plötzlich wissen. „Das Geld brauche ich nicht. Ich will nur einen Grund, um vor die Tür zu gehen.“

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