Ein Grund, vor die Tür zu gehen
Man lernt seine Nachbarn ganz anders kennen, wenn man nicht mehr das Haus verlässt. Wenn ich still in meiner Einzimmerwohnung mit dünnen Wänden sitze, höre ich unweigerlich eine Menge Gespräche. Trotz Kontaktverbot. Ich höre, wie mein Nachbar bei meiner älteren Nachbarin klingelt, um mit ihrem Hund rauszugehen. Er scheint etwas nervös zu sein, denn er holt tief Luft, bevor er klopft. Seine sonst tiefe Stimme ist deutlich höher als sonst. Als das kurze Gespräch zwischen den beiden vorbei ist, höre ich, wie sich die Tür schließt. Mein Nachbar atmet wieder aus und stiefelt los.
Damit mir die Decke nicht auf den Kopf fällt, gehe ich alle zwei Stunden auf dem Hof spazieren. Häufig treffe ich den gleichen Nachbarn. Einer meiner wenigen Sozialkontakte, die sich in den letzten Wochen nicht in ein Rechteck auf meinem Handybildschirm verwandelt haben. Unsere Gespräche laufen immer ähnlich ab: Er hat mitbekommen, dass ich „bei der Zeitung“arbeite und fragt mich, ob ich irgendwas Neues weiß. Die Nachrichten eignen sich im Moment nicht besonders gut für Small Talk: „Nicht wirklich“, sage ich.
Er ist nicht zufrieden: „Kann man bald wieder rausgehen?“, fragt er eindringlich. „Keine Ahnung“, sage ich wahrheitsgemäß. Er klagt über seine kleine Wohnung und dass er nirgendwo mehr sitzen und einen Kaffee trinken kann. Die Ausgangsbeschränkung bekommt ihm nicht gut.„Sucht ihr vielleicht noch einen Zeitungsjungen?“, will er plötzlich wissen. „Das Geld brauche ich nicht. Ich will nur einen Grund, um vor die Tür zu gehen.“