Ballett auf Bestellung
Mit der VR-Brille mitten in der Choreografie. Dafür braucht es einen klaren Kopf
In Corona-Zeiten ist alles anders. „Wenn Sie nicht zu uns kommen können, kommen wir einfach zu ihnen“, verkündet Intendant André Bücker auf der Internetseite des Hauses. Das Staatstheater Augsburg beschränkt sich dabei nicht nur auf das Streaming von Aufführungen, Lesungen und Gesprächen, sondern kreiert eine neue Form des Theatererlebnisses: Die Virtual-RealityVorstellung, die Aufführungen im 360-Grad-Modus ins Wohnzimmer bringt – ein wirklich innovativer Umgang mit der Not, nicht mehr vor Publikum spielen zu können. Dank der 500 Spezialbrillen, die für die nun ausfallende Premiere der Gluck-Oper „Orfeo ed Euridice“angeschafft wurden, entsteht so ein digitales Repertoire, das nach dem Schauspiel-Prolog „Judas“in der Annakirche (wir berichteten) seit dieser Woche auch das Ballett „Shifting Perspectives“präsentiert.
Auf den Pausensekt sollte man aber lieber verzichten. Nicht weil sich diese 45-minütige Ballettaufführung in Virtual Reality nicht unterbrechen ließe. Nein, dafür setzt man einfach nur die Brille ab, die einem eine Mitarbeiterin des Theaters an die Haustür geliefert hat. Und das tut gut, denn bei „Shifting Perspective“dreht sich auch ohne Alkohol der Kopf.
Nicht nur der übrigens. Denn, so die Empfehlung auf einem beigelegten Faltblatt: „Benutzen Sie nach Möglichkeit einen drehbaren Stuhl, um den dreidimensionalen Raum der VR-Technik in Gänze wahrnehmen zu können.“Und tatsächlich: Wer den Zuschauerraum ins enge Arbeitszimmer verlegt, landet schnell an der Schreibtischkante, so intensiv ist das Raumerlebnis.
Mittendrin, auf der Bühne des Martiniparks, nimmt man virtuell Platz und wird umschwirrt von kreiselnden, sich schlängelnden und springenden Tänzern. Immer schön einzeln und kompatibel mit den Bestimmungen des Social Distancing. Trotzdem sieht man in einigen der 13 Sequenzen auch mehrere Akteure, denn jeder der Tänzer hat zu den elegischen Klängen des Sounddesigners Robin Rimbaud drei Variationen eines Solos einstudiert. Improvisatorische Miniaturen, die eher durch die Nähe der Tänzerinnen und Tänzer bestechen als durch choreografische Finesse. Übereinandergelegt formieren sich daraus Duos oder Trios.
Das ist faszinierend, weil der Zuschauer selbst zum Teil der Choreografie wird. Leider ist man aber oft viel zu sehr damit beschäftigt, nach den Tänzerinnen und Tänzern auf der leeren Bühne zu suchen. Rechts herum im Drehstuhl, links herum, nein, diesmal entdeckt man jemanden direkt unter sich. Das ist nicht nur mühsam, sondern auch wirklich schwindelerregend und schmälert das Vergnügen.
Ob Ballett mit seinen schnellen Bewegungen für dieses Format wirklich geeignet ist? Vielleicht in auf dieses Format abgestimmten Choreografien. Es ist zu befürchten, dass dem Ballett Augsburg noch einige Zeit bleibt, um das auszuprobieren.