Wie Studenten unter Corona-Stress leiden
Psychologe Thomas Blum erklärt, warum selbst gesunde Studierende erste Anzeichen einer Depression entwickeln. Am Krisentelefon des Augsburger Studentenwerks gibt es eine überraschende Entwicklung
Herr Blum, Studierende müssen wegen der Corona-Pandemie daheim studieren, weil die Hörsäle geschlossen sind. Wie macht sich die Krise bei der Psychologischen Beratung des Studentenwerks Augsburg bemerkbar? Blum: Wir waren vorbereitet auf eine Steigerung der Nachfrage nach einem Krisentelefon. Zu unserer Überraschung ist die Nachfrage nach Beratung um 50 Prozent eingebrochen.
Wie erklären Sie sich das?
Blum: Durch den Shutdown der Hochschule und Universität sind viele Studierende wieder zu ihren Eltern gezogen. Sicherlich gab es auch Ansteckungsängste, wobei wir keine face-to-face Beratungen mehr anbieten, sondern nur noch telefonische Sitzungen.
Mit welchen Themen kommen denn die Ratsuchenden?
Blum: Erstaunlicherweise sprechen sie von sich aus kaum über Corona, sondern nur über die Themen, die sie auch schon vor der Krise beschäftigt haben. Es entsteht der trügerische Eindruck, dass Studierende sich nicht existenziell vom Virus bedroht fühlen und sich sehr gut an die neue Situation, etwa OnlineStudium, anpassen könnten.
Ein trügerischer Eindruck?
Blum: Ja, denn unter der Oberfläche wird deutlich, dass erheblicher Leidensdruck vorhanden ist. Erste Anzeichen, dass eigentlich psychisch gesunde Studierende depressive Symptome entwickeln, wie Freudund Sinnlosigkeit, Konzentrationsund Motivationsprobleme, werden sichtbar.
Was kann man da tun?
Blum: Die meisten erkennen gar nicht, dass sie „gesund“auf eine deprimierende, krankmachende Situation – etwa Kontakteinschränkungen – reagieren. Sie verstehen nicht, was mit ihnen geschieht und denken, dass alle anderen einfach normal weiterfunktionieren.
Was genau macht denn an der Situation krank?
Blum: Nehmen Sie zum Beispiel Online-Seminare. Früher haben sie sich auf den Weg zur Uni gemacht, überlegt, was sie anziehen wollen, sich auf Kommilitonen gefreut, gemeinsam ein Lernerlebnis gehabt, das auch von der jeweiligen Gruppendynamik geprägt war. Heute guckt ihnen der Kopf des Dozenten direkt in ihrer Wohnung entgegen. Wenn sie ihre Webcam nicht aktivieren, können sie auch nackt vor dem Bildschirm sitzen, keinen interessiert das.
Haben Sie noch ein Beispiel?
Blum: Ja, der 1,5-Meter-Abstand: Vor Corona habe ich den Abstand unbewusst relativ frei zu meinen Mitmenschen regulieren können. Wenn ich jemanden attraktiv fand, bin ich vielleicht näher gekommen, konnte vielleicht den Geruch des anderen einfangen. Heute schaue ich wie ein Roboter, dass der 1,5- Meter-Abstand penibel eingehalten wird. Der andere ist potenziell eine Gefahr für mich. Das ist alles auf Dauer sehr deprimierend.
Früher waren uns die Menschen doch aber auch häufig zu viel und zu nah? Blum: Ja, da gibt es eine große individuelle Bandbreite. Menschen, für die andere Menschen vor allem unangenehmen sozialen Stress bedeuten, zum Beispiel Asperger-Autisten, fühlen sich zurzeit sehr wohl, weil die Welt endlich so ist, wie sie sie am liebsten hätten.
Können wir etwas tun, damit wir nicht depressiv werden?
Blum: Ja. Der erste Schritt ist, die Situation grundsätzlich als deprimierend anzuerkennen und nicht nur als persönliches Problem zu begreifen. Der zweite Schritt ist, sich mit anderen über die psychischen Wirkungen der Krise auszutauschen. Der dritte Schritt ist, sich die Krise nicht schönzureden, aber
Vorteile, die man erkennen kann, zu genießen. Wir alle können Geduld lernen, müssen Kontrolle etwa an die Impfstoff-Forscher abgeben, können erfahren, wie es sich wohl anfühlt, wenn ein Mensch tatsächlich depressiv ist. Vielleicht lernen wir sogar, was uns echter zwischenmenschlicher Kontakt bedeutet, den wir bereits vor der Krise bereit waren, in virtuelle Fast-Food-Kontakte umzuwandeln.
OZur Person: Thomas Blum ist Diplom-Psychologe und Psychotherapeut. Er berät seit 20 Jahren Studierende beim Studentenwerk Augsburg.