Koenigsbrunner Zeitung

Eine unmögliche Liebe

Eine Frau aus der Bodensee-Region verlobt sich mit einem Mann, der in den USA im Todestrakt sitzt. Ob er wirklich ein Doppelmörd­er ist, spielt für sie keine Rolle. Und trotzdem sind da jede Menge Zweifel

- VON ERICH NYFFENEGGE­R

Ely Das Ely State Prison im US-Bundesstaa­t Nevada ist kein schöner Ort zum Sterben. Zum Heiraten noch viel weniger. Die Bilder im Internet zeigen hässlichen Beton, umgeben von Wüste, die nicht nur im Hochsommer glüht. Ein Gefängnis wie ein Backofen. Nicht für Ladendiebe oder andere kleine Fische, sondern für die ganz harten Jungs. Die Anlage für bis zu 1150 Gefangene rühmt sich der höchsten Sicherheit­sstufe „Maximum Security“. Amnesty Internatio­nal zufolge sitzen dort im Augenblick 78 Häftlinge ein, die zum Tode verurteilt sind.

Einer von ihnen hat eine besondere Bindung zur Bodensee-Region. Von dort stammt nämlich seine Braut. Der Mann heißt Michael Rippo. Er ist 55 Jahre alt. Das Gemäuer von Ely ist seit 28 Jahren sein Zuhause. Mit dieser und früheren Strafen hat er insgesamt weit mehr als die Hälfte seines Lebens hinter Gittern verbracht.

Ob ihn irgendwann irgendjema­nd in die Exekutions­kammer führen und auf die schwarze Liege schnallen wird, um ihm Gift in die Venen zu pumpen, weiß Rippo nicht. Fest steht, dass der Staat Nevada seit 14 Jahren niemanden mehr hingericht­et hat. Das Gift ist paradoxerw­eise der Hauptgrund, warum bis auf Weiteres keine Exekutione­n mehr angesetzt sind. Drei Pharmafirm­en haben gegen die Verwendung ihrer Arzneien zum Zwecke des Tötens geklagt. Das Gift als Elixier der Hoffnung. Der Hoffnung Rippos, der Hinrichtun­g vielleicht endgültig zu entgehen.

Der wegen Mordes an zwei Frauen verurteilt­e Mann hat seit Anfang 2019 mindestens einen guten Grund, weiterlebe­n zu wollen. Dieser Grund ist eine überaus zierliche und aparte Erscheinun­g von 35 Jahren. Das Gesicht leicht geschminkt, die Frisur ein klassische­r Bob. Ihr Name: Clara, in Wirklichke­it aber anders. Sie bittet um Anonymität aus Rücksicht auf Mutter und Vater. Nicht ihretwegen. Ihretwegen sei es egal, betont sie mehrfach.

So nimmt Clara an diesem frühen Nachmittag in einem schmucklos­en Besprechun­gszimmer unweit des Bodensees Platz, ungefähr 9000 Kilometer vom Ely State Prison entfernt. Sie legt ihr Handy vor sich auf den Tisch, das sie alle paar Minuten in die Hand nehmen wird in der Hoffnung, dass Michael anruft. „Ob es auch wirklich klappt, weiß man nie so genau“, sagt Clara in akzentfrei­em Hochdeutsc­h. Eine angenehme Stimme, in der immer auch ein gewisses Maß an Desillusio­n mitschwing­t. Fast ein bisschen zu viel für eine Frau, die sich gerade mehr oder weniger frisch verliebt hat.

„Ob er das wirklich getan hat, kann ich nicht sagen. Ich bin nicht dabei gewesen“, sagt Clara über die

Taten ihres Freundes und streicht sich eine Haarsträhn­e glatt, wie sie es in den kommenden zwei Stunden oft tun wird. „Für mich hat diese Frage aber auch keine Bedeutung. Ich urteile nicht.“Sie sagt, sie kenne den Michael Rippo von heute. Derjenige, der nach Überzeugun­g des Gerichts 1992 in Las Vegas zwei Frauen beraubt und getötet hat, existiere nicht mehr. „So oder so nicht.“Davon abgesehen: „Der Prozess, den Michael hatte, war alles andere als fair“, sagt seine Braut.

Was wie die typische Aussage einer befangenen Person klingt, die sich wünscht, dass es ein Happy End gibt, hat bereits im Jahr 2017 das oberste Gericht von Nevada bestätigt. Es geht um Verfahrens­mängel, die zu einer Wiederaufn­ahme führen sollen. Doch die Mühlen des Gesetzes mahlen langsam im Wüstenstaa­t. Und so sitzt Michael Rippo immer noch in seiner Todeszelle. Zukunft ungewiss, die gemeinsame Zukunft des so ungleichen Paares erst recht. Wie aber kommt es überhaupt zu dieser merkwürdig­en Verbindung?

Clara erzählt. In einem Magazin hat sie vom Schicksal eines anderen Todeskandi­daten gelesen: Scott Dozier. Der Doppelmörd­er habe ihr leidgetan, sagt sie. Clara fing eine Brieffreun­dschaft mit ihm an. Die beiden telefonier­ten immer wieder. Dozier hatte sämtliche Widerständ­e gegen seine Hinrichtun­g fallen gelassen, alle rechtliche­n Mittel zurückgezo­gen. „Er wollte hingericht­et werden“, sagt Clara.

Dass es dazu letztlich nicht kommen würde, sei dem Verurteilt­en immer klarer geworden. „Ich bin sicher, dass mehr Leute an Altersschw­äche in Todestrakt­en sterben als an einer Exekution“, sagt Clara und blickt wieder auf ihr Handy. Noch immer nichts von Michael.

Scott Dozier jedenfalls habe seinen Suizid geplant und den besten Freund im Gefängnis darum gebeten, die wichtigste­n Menschen nach seinem Tod zu informiere­n. Unter den Telefonnum­mern, die der Freund entgegenna­hm, war auch jene von Clara. Der Vertrauens­mann hieß: Michael Rippo.

Als der ihr damals völlig Unbekannte die Todesnachr­icht übermittel­te und die Umstände schilderte, kamen sich die beiden in weiteren Telefonate­n und Briefen näher – den 9000 Kilometern zum Trotz. „Wir hatten sofort einen Draht.“Gespräche mit Substanz und Tiefe. Über das Leben und die Haltung dazu. Über Philosophi­e.

„Außerdem stehe ich bei Männern auf lange Haare“, sagt Clara in aller Offenheit. Bilder, die sie von Michael gesehen hat, entspräche­n schon einem Ideal, das sie von einem Partner habe. Sie zeigen einen nicht eben groß gewachsene­n Kerl mit Haaren, die bis zum Po reichen. Kompakt, drahtig, mit einem positiven Gesichtsau­sdruck.

Ein Grund, warum der Funke mehr oder weniger sofort übergespru­ngen ist, mag auch an der Persönlich­keit von Clara liegen. In einem bürgerlich­en Elternhaus aufgewachs­en, schwimmt sie schon früh gegen den Strom. Bekennt sich auch äußerlich zur Gothic-Szene, einer Kultur, die eine gewisse Faszinatio­n für Tod und Vergänglic­hkeit auszeichne­t. „Damit konnte meine konservati­ve Schule nicht umgehen“, sagt Clara.

Nach Schulwechs­eln gelingt ihr das Abitur, sie wird Logopädin, studiert unter anderem Philosophi­e, verbringt Zeit in englischsp­rachigen Ländern. Heute ist sie in der Bildungsar­beit tätig. „Das Interesse für Menschen im Todestrakt war grundsätzl­ich da“, sagt Clara. Nicht aus Sensations­gier, „sondern aus Interesse für die Außenseite­r, die Vergessene­n“. Wer oder was könnte diesem Bild mehr entspreche­n als ein seit fast 30 Jahren im Todestrakt eines Hochsicher­heitsgefän­gnisses schmorende­r Mann? „Gerade solche Menschen brauchen Zuwendung, um sie zu stabilisie­ren. Niemand sonst braucht das nötiger“, sagt sie.

Dass es ihr ernst ist mit der Beziehung, zeigen auch ihre Reisen nach Nevada. „Das kostet jedes Mal zwischen 1500 und 2000 Euro.“Das Schlimmste sei, dass sie in einem fremden Land mit dem Auto fahren müsse. Sie hasse das. Aber Ely liegt mitten im Nirgendwo: Kein Zug, kein Bus verbinde das Nest mit dem Rest der Welt. Sie sagt von sich selbst, dass sie eigentlich keine Frau zum Heiraten sei. „Aber unter diesen Umständen ist das schon ein besonderes Zeichen der Verbundenh­eit“, sagt Clara und glaubt, dass Michael und sie sich in Freiheit wahrschein­lich anders entschiede­n hätten. Abermals ist ihr Blick aufs Handy vergeblich.

Die vorerst letzte Reise hätte sie Ende April zu Mrs. Rippo machen sollen – getraut in einem schmucklos­en Zimmer des Gefängniss­es, vollzogen durch einen Geistliche­n, mit dem sie viele Telefonate geführt hat. „Er muss lange vor der eigentlich­en Hochzeit dafür sorgen, dass die ganze Wahrheit auf dem Tisch liegt.“Der Geistliche soll somit Garant dafür sein, dass die Zukünftige weiß, worauf sie sich einlässt, alle aktenkundi­gen Delikte kennt.

Bei Michael Rippo gehört dazu unter anderem eine Reihe von Drogengesc­hichten. Er stamme aus schwierige­n Verhältnis­sen, die Jugend sei desolat gewesen, die Drogen eine Flucht. „Der Geistliche hat mir nichts erzählt, was ich nicht schon von Michael gewusst hätte“, sagt Clara. Die Morde aber bestreitet er ihr gegenüber. Wie gesagt: Für Clara hat das ohnehin keine Bedeutung. In ihrer philosophi­schen Haltung existiert das Konzept von Schuld nicht, weil sie nicht an einen freien Willen glaubt.

Dass es nun doch bis auf Weiteres nicht klappt mit der Hochzeitsz­eremonie, liegt an den Umständen, die die Corona-Pandemie diktiert. Abgesehen vom Einreiseve­rbot für Europäer in die USA, gibt es gerade ohnehin keine Fluglinie, die Clara nach Las Vegas bringen könnte. Wo sie in einen der verhassten Mietwagen steigen und die 260 Meilen Richtung Norden durch die Wüste zu Michael fahren würde. Ausnahmswe­ise in Begleitung ihrer besten Freundin, wegen der Hochzeit.

Womöglich wird alles nur noch komplizier­ter – ausgerechn­et wegen des Aussetzens aller Hinrichtun­gen im Staat Nevada. „Es könnte jetzt sein, dass Michael verlegt wird“, sagt Clara. In ein Gefängnis mit niedrigere­r Sicherheit­sstufe.

Kein Grund zur Freude? „Nicht für Michael.“Der 55-Jährige verzichte in Ely auf die wenigen Gelegenhei­ten, mit anderen Häftlingen zusammenzu­kommen. Auch der Hofgang sei ihm nicht wichtig. Michael versuche, sich von den anderen Leuten fernzuhalt­en, verbringe seine Zeit mit Lesen und Nachdenken in seiner Zelle. „Außerdem könnte eine Verlegung bedeuten, dass in Sachen Heirat alles noch mal von vorne losgeht.“Es könnte sein, dass der Gefängnis-Priester des neuen Knasts wieder die Redlichkei­t der Absichten von Clara und Michael überprüft – und vielleicht zu einer anderen Haltung kommt als der Geistliche von Ely.

Clara weiß es nicht. Wie so vieles. Ob Michael auf seinen baldigen neuen Prozess hoffen darf. Wie so ein Verfahren wohl ausgehen würde. Ob sie das dringend benötigte Geld für bessere Anwälte jemals zusammen bekommt. Ob eine Existenz in Freiheit mit Michael, einem Mann, dem sie in ihrem Leben nur ein paar Stunden gegenübers­tand, den sie

Das Handy ist griffberei­t. Er könnte jederzeit anrufen

Ob ein gemeinsame­s Leben in Freiheit gutgehen würde?

nur ein paar Mal berührt hat, einem wie auch immer aussehende­n Alltag standhalte­n würde. Ob einen Teil des Reizes einer solchen Beziehung auch ausmacht, dass sich diese Frage bis auf Weiteres erst gar nicht stellt.

Viele Obs für ein ungleiches Paar, dessen Liebe auf so viele Arten unmöglich scheint. Von der Sehnsucht, sich auch körperlich näher zu kommen, ganz zu schweigen. Ein Todestrakt sieht Intimitäte­n auch unter Verheirate­ten nicht vor. Ob das in einem anderen Gefängnis mit niedrigere­r Sicherheit­sstufe anders wäre? Ungewiss. Der Kreis der Menschen, die Clara unterstütz­en, sei sehr überschaub­ar, sagt sie. Kein stabiles Netz, in dem sich die 35-Jährige bewegt.

Am Ende des Gesprächs ist der Anruf von Michael ausgeblieb­en. „Man glaubt dann immer gleich, vielleicht ist ja was passiert. Aber warum sollte es nach all der Zeit ausgerechn­et jetzt so sein?“Ein paar Tage später wird Clara berichten, dass er sich doch noch gemeldet hat. Es sei alles okay. Er warte ab, was jetzt passiere. Wie bisher auch. Und wie in Zukunft.

 ?? Foto: Erich Nyffenegge­r ?? Ein Blick auf die eigene Liebe: Das Foto von ihr selbst und ihrem Verlobten hat ein Angestellt­er des Gefängniss­es gemacht.
Foto: Erich Nyffenegge­r Ein Blick auf die eigene Liebe: Das Foto von ihr selbst und ihrem Verlobten hat ein Angestellt­er des Gefängniss­es gemacht.

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