„Die Ärmsten tragen die Kosten der Krise“
Vor allem einkommensschwache Rentner erleben jetzt eine prekäre Lage, warnt Armutsforscher Butterwegge. Warum er einen Ernährungszuschlag fordert und den Solidaritätszuschlag zwar beibehalten, aber umwidmen würde
Herr Professor Butterwegge, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) will sich stärker mit der Lebenssituation älterer Menschen, Alleinerziehender und von Familien mit Kindern befassen. Sie sind Armutsforscher, um welche Menschen muss man sich aus Ihrer Sicht politisch intensiver kümmern?
Christoph Butterwegge: Rentnerinnen und Rentner sind von der Corona-Krise doppelt belastet. Einerseits gehören sie aufgrund ihres hohen Alters zu den Immunschwachen, andererseits aufgrund ihres geringen Einkommens häufig zu den Finanzschwachen. Mehr als eine Million der Menschen über 64 Jahre hatten bei Ausbruch der Pandemie einen Minijob. Für sie gibt es keine Möglichkeit zur Kurzarbeit, sondern nur die Entlassung. Sie haben diese wichtige Einnahmequelle verloren und dann meist zu wenig Geld, um ihre Miete zu bezahlen und das Nötigste einzukaufen.
Sie gehen also davon aus, dass die Altersarmut steigen wird? Butterwegge: Ja, das Problem wird sich infolge der Corona-Krise mit Sicherheit verschärfen. Aus drei Gründen ist Armut im Alter noch schlimmer als für junge Menschen: Senioren fehlt erstens die Perspektive, durch Erwerbsarbeit wieder aus der Armut herauszukommen, weil sie auf dem Arbeitsmarkt chancenlos sind. Zweitens erwarten sie einen Lohn für ihre Lebensleistung und sind tief gedemütigt. Und drittens haben sie als Kleinstrentner oder Empfänger von Grundsicherung im Alter ein viel höheres Risiko, völlig zu vereinsamen, was ebenfalls Depressionen nach sich ziehen kann.
Aber nicht alle Rentner, die einen Minijob haben, arbeiten aus Not, viele schätzen, so heißt es zumindest immer wieder, auch die sozialen Kontakte. Butterwegge: Das gibt es, gewiss. Aber kennen Sie die Witwe eines Chefarztes, die Regale im Supermarkt auffüllt oder in einer Gaststätte arbeitet, um unter Menschen zu kommen? Nein, die allermeisten Senioren arbeiten noch, weil sie nur eine kleine Rente haben. Es gab 2019 sogar fast 200000 Menschen, die einen Minijob hatten, obwohl sie 75 Jahre oder älter waren. Über ein Drittel der Menschen, die Lebensmitteltafeln aufsuchen, sind Senioren. Viele Tafeln wurden aber wegen der Pandemie geschlossen, nicht zuletzt deshalb, weil die Helfer aus Altersgründen zur Hochrisikogruppe gehören.
Was wäre denn zu tun aus Ihrer Sicht? Butterwegge: Ich fordere einen Ernährungszuschlag von 100 Euro monatlich für Menschen, die Hartz IV, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung oder Asylbewerberleistungen beziehen. Schließlich sind gesunde Lebensmittel wichtig zur Stärkung des Immunsystems, aber teurer und zum Teil wegen Hamsterkäufen auch knapper geworden.
Die Bundesregierung hat doch ein Sozialschutzpaket geschnürt, das unter anderem vorsieht, dass Menschen leichter staatliche Hilfe erhalten. Butterwegge: Leider hat dieses Hilfspaket eine verteilungspolitische Schieflage. Es hilft zwar denjenigen, die als Kleinunternehmer oder Soloselbstständige neu in die Bedürftigkeit geraten. Sie bekommen leichter Hartz IV, um ihre Existenz zu sichern, und Wohngeld. Leer gingen hingegen Menschen aus, die teilweise schon viele Jahre lang Hartz IV beziehen und derzeit höhere Kosten haben.
Das sind ja nicht nur alte Menschen, sondern auch Alleinerziehende und Familien mit Kindern. Butterwegge: Gerade viele Alleinerziehende und Familien im Hartz-IVBezug geraten jetzt in finanzielle Not. Nur ein Beispiel: Kinder aus Hartz-IV-Familien erhielten in der Kita oder in der Schule ein kostenloses Mittagessen. Jetzt müssen die Familien ihre Kinder selbst verpflegen, weil Schulen und Kitas geschlossen sind. Man muss es leider so sagen: Für die Menschen, die schon länger bedürftig sind, für Obdachlose, Hartz-IV-Empfänger und Bezieher von Grundsicherung wurde bisher gar nichts getan. Für jene Menschen, die am stärksten von der Krise betroffen sind, gibt es keine staatliche Unterstützung. Damit verletzt der Sozialstaat seine oberste Pflicht. Wer am meisten profitiert, ist die Wirtschaft – ihr wurden praktisch über Nacht mehr als eine Billion Euro zur Verfügung gestellt, wenn man die Summe von Finanzhilfen, Krediten und Bürgschaften bildet.
Nicht wenige fürchten, dass trotz Kurzarbeit viele Unternehmen massiv Stellen streichen werden. Butterwegge: Vermutlich wird es zu Massenentlassungen kommen. Dabei zahlen viele Konzerne wie Daimler weiter üppige Dividenden. Unternehmen sparen die Lohnkosten einschließlich der Sozialversicherungsbeiträge, die der Staat mit dem Kurzarbeitergeld übernimmt. Die Beschäftigten erleiden anfangs große Einkommensverluste, was besonders Geringverdiener hart trifft. Sinnvoll wäre deshalb ein MindestKurzarbeitergeld, wie es die CDUSozialausschüsse fordern. Schließlich tragen am Ende vor allem die Ärmsten die Kosten der Krise.
Wie meinen Sie das?
Butterwegge: Nicht nur, dass vor allem Geringverdiener und Leiharbeiter ihre Jobs als Erstes verlieren, vor allem die Sozialausgaben dürften gekürzt werden. Milliardensummen, die Gruppen mit der größten Lobbymacht bekommen, müssen schließlich bezahlt werden. Stimmen aus der Union, die nach einem Verzicht auf die Grundrente rufen oder sie verschieben wollen, werden bereits lauter – das würde im Übrigen viele von denen treffen, die in der Corona-Krise als Helden des Alltags gefeiert werden: Krankenschwestern, Pflegekräfte, Verkäuferinnen und Rettungssanitäter, die schlecht bezahlt werden und später in den Genuss der Grundrente kämen.
Was müsste aus Ihrer Sicht geschehen? Butterwegge: Auf keinen Fall darf es Steuersenkungen für Wohlhabende und Vermögende geben. Die SPDVorsitzende Esken hat recht, wenn sie eine Vermögensabgabe als Lastenausgleich fordert. Hingegen ist eine Abschaffung des Solidaritätszuschlages, die Markus Söder, Friedrich Merz und Christian Lindner befürworten, der völlig falsche Weg. Sie würde vor allem Reiche begünstigen. Stattdessen sollte der Solidaritätszuschlag in seiner alten Form erhalten und zu einem Corona-Soli umgewidmet werden. Wenn die Große Koalition so weitermacht, vertieft sich die Kluft zwischen Arm und Reich. Dabei hatten Pandemien wie die mittelalterliche Pest oft eine gegenteilige Wirkung.
Sorgte die Pest für mehr Gleichheit? Butterwegge: Durch den Schwarzen Tod vieler Menschen sanken die Boden-, Immobilien- und Lebensmittelpreise. Weil nach der Pandemie die Arbeitskräfte fehlten, stiegen die Löhne. Dies ist heute ganz anders.
Das müssen Sie bitte erklären. Butterwegge: Erstens sind von dem Virus nicht alle gleich bedroht, ganz im Gegenteil: Finanzschwache sind wegen sozial bedingter Vorerkrankungen stärker als Wohlhabende betroffen. Zweitens kümmert sich der Staat ausgerechnet um jene am wenigsten, die Covid-19 am härtesten trifft. Oder werden Wohnungs- und Obdachlose etwa gezielt unterstützt?
Sie meinen, weil viele soziale Anlaufstellen geschlossen sind? Butterwegge: Natürlich, nach deren Wegfall fehlt Obdachlosen und Suchtkranken oft die einzige Möglichkeit, sich zu waschen. Wie sollen sich Obdachlose vor dem Coronavirus schützen, wie sollen sie die Hygieneregeln einhalten? Da müssten Sanitärstationen errichtet werden, sofern man die Betroffenen nicht in leer stehenden Wohnungen, Pensionen und Hotels unterbringt.
„Wie sollen sich Obdachlose vor dem Coronavirus schützen, wie sollen sie die Hygieneregeln einhalten?“
Christoph Butterwegge
Durch einen verstärkten Einsatz von Streetworkern müsste den besorgniserregenden Tendenzen zur Verelendung entgegengewirkt werden.
Aber in der Gesellschaft ist doch eine große Hilfsbereitschaft zu beobachten. Von Anfang an gab es etwa Einkaufshilfen, auch Nachbarschaftshilfe gibt es verstärkt. Glauben Sie nicht, dass diese Solidarität sich halten wird? Butterwegge: Ich bin da skeptisch. Läuft bald alles wieder in normalen Bahnen, drohen die Probleme der sozialen Risikogruppen in Vergessenheit zu geraten. Kommt eine zweite Welle wie bei der Spanischen Grippe, der 1918/1919 Millionen Menschen auf der ganzen Welt zum Opfer fielen, ist zu befürchten, dass jeder nur noch für sich und die Seinen kämpft. Nachbarschaftshilfen, Empathie, Gemeinsinn – das sind alles zarte Pflänzchen, die schnell zertreten sein können. Für die Versorgung bedürftiger Gruppen muss der Sozialstaat zuständig bleiben. Er darf diese Aufgabe nicht Ehrenamtlern, Stiftungen und Spendern überlassen.
Christoph Butterwegge, 69, war Ordinarius für Politikwissenschaft an der Uni Köln und ist Autor mehrerer Bücher.