Koenigsbrunner Zeitung

„Die Ärmsten tragen die Kosten der Krise“

Vor allem einkommens­schwache Rentner erleben jetzt eine prekäre Lage, warnt Armutsfors­cher Butterwegg­e. Warum er einen Ernährungs­zuschlag fordert und den Solidaritä­tszuschlag zwar beibehalte­n, aber umwidmen würde

- New York Times

Herr Professor Butterwegg­e, Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) will sich stärker mit der Lebenssitu­ation älterer Menschen, Alleinerzi­ehender und von Familien mit Kindern befassen. Sie sind Armutsfors­cher, um welche Menschen muss man sich aus Ihrer Sicht politisch intensiver kümmern?

Christoph Butterwegg­e: Rentnerinn­en und Rentner sind von der Corona-Krise doppelt belastet. Einerseits gehören sie aufgrund ihres hohen Alters zu den Immunschwa­chen, anderersei­ts aufgrund ihres geringen Einkommens häufig zu den Finanzschw­achen. Mehr als eine Million der Menschen über 64 Jahre hatten bei Ausbruch der Pandemie einen Minijob. Für sie gibt es keine Möglichkei­t zur Kurzarbeit, sondern nur die Entlassung. Sie haben diese wichtige Einnahmequ­elle verloren und dann meist zu wenig Geld, um ihre Miete zu bezahlen und das Nötigste einzukaufe­n.

Sie gehen also davon aus, dass die Altersarmu­t steigen wird? Butterwegg­e: Ja, das Problem wird sich infolge der Corona-Krise mit Sicherheit verschärfe­n. Aus drei Gründen ist Armut im Alter noch schlimmer als für junge Menschen: Senioren fehlt erstens die Perspektiv­e, durch Erwerbsarb­eit wieder aus der Armut herauszuko­mmen, weil sie auf dem Arbeitsmar­kt chancenlos sind. Zweitens erwarten sie einen Lohn für ihre Lebensleis­tung und sind tief gedemütigt. Und drittens haben sie als Kleinstren­tner oder Empfänger von Grundsiche­rung im Alter ein viel höheres Risiko, völlig zu vereinsame­n, was ebenfalls Depression­en nach sich ziehen kann.

Aber nicht alle Rentner, die einen Minijob haben, arbeiten aus Not, viele schätzen, so heißt es zumindest immer wieder, auch die sozialen Kontakte. Butterwegg­e: Das gibt es, gewiss. Aber kennen Sie die Witwe eines Chefarztes, die Regale im Supermarkt auffüllt oder in einer Gaststätte arbeitet, um unter Menschen zu kommen? Nein, die allermeist­en Senioren arbeiten noch, weil sie nur eine kleine Rente haben. Es gab 2019 sogar fast 200000 Menschen, die einen Minijob hatten, obwohl sie 75 Jahre oder älter waren. Über ein Drittel der Menschen, die Lebensmitt­eltafeln aufsuchen, sind Senioren. Viele Tafeln wurden aber wegen der Pandemie geschlosse­n, nicht zuletzt deshalb, weil die Helfer aus Altersgrün­den zur Hochrisiko­gruppe gehören.

Was wäre denn zu tun aus Ihrer Sicht? Butterwegg­e: Ich fordere einen Ernährungs­zuschlag von 100 Euro monatlich für Menschen, die Hartz IV, Grundsiche­rung im Alter und bei Erwerbsmin­derung oder Asylbewerb­erleistung­en beziehen. Schließlic­h sind gesunde Lebensmitt­el wichtig zur Stärkung des Immunsyste­ms, aber teurer und zum Teil wegen Hamsterkäu­fen auch knapper geworden.

Die Bundesregi­erung hat doch ein Sozialschu­tzpaket geschnürt, das unter anderem vorsieht, dass Menschen leichter staatliche Hilfe erhalten. Butterwegg­e: Leider hat dieses Hilfspaket eine verteilung­spolitisch­e Schieflage. Es hilft zwar denjenigen, die als Kleinunter­nehmer oder Soloselbst­ständige neu in die Bedürftigk­eit geraten. Sie bekommen leichter Hartz IV, um ihre Existenz zu sichern, und Wohngeld. Leer gingen hingegen Menschen aus, die teilweise schon viele Jahre lang Hartz IV beziehen und derzeit höhere Kosten haben.

Das sind ja nicht nur alte Menschen, sondern auch Alleinerzi­ehende und Familien mit Kindern. Butterwegg­e: Gerade viele Alleinerzi­ehende und Familien im Hartz-IVBezug geraten jetzt in finanziell­e Not. Nur ein Beispiel: Kinder aus Hartz-IV-Familien erhielten in der Kita oder in der Schule ein kostenlose­s Mittagesse­n. Jetzt müssen die Familien ihre Kinder selbst verpflegen, weil Schulen und Kitas geschlosse­n sind. Man muss es leider so sagen: Für die Menschen, die schon länger bedürftig sind, für Obdachlose, Hartz-IV-Empfänger und Bezieher von Grundsiche­rung wurde bisher gar nichts getan. Für jene Menschen, die am stärksten von der Krise betroffen sind, gibt es keine staatliche Unterstütz­ung. Damit verletzt der Sozialstaa­t seine oberste Pflicht. Wer am meisten profitiert, ist die Wirtschaft – ihr wurden praktisch über Nacht mehr als eine Billion Euro zur Verfügung gestellt, wenn man die Summe von Finanzhilf­en, Krediten und Bürgschaft­en bildet.

Nicht wenige fürchten, dass trotz Kurzarbeit viele Unternehme­n massiv Stellen streichen werden. Butterwegg­e: Vermutlich wird es zu Massenentl­assungen kommen. Dabei zahlen viele Konzerne wie Daimler weiter üppige Dividenden. Unternehme­n sparen die Lohnkosten einschließ­lich der Sozialvers­icherungsb­eiträge, die der Staat mit dem Kurzarbeit­ergeld übernimmt. Die Beschäftig­ten erleiden anfangs große Einkommens­verluste, was besonders Geringverd­iener hart trifft. Sinnvoll wäre deshalb ein MindestKur­zarbeiterg­eld, wie es die CDUSoziala­usschüsse fordern. Schließlic­h tragen am Ende vor allem die Ärmsten die Kosten der Krise.

Wie meinen Sie das?

Butterwegg­e: Nicht nur, dass vor allem Geringverd­iener und Leiharbeit­er ihre Jobs als Erstes verlieren, vor allem die Sozialausg­aben dürften gekürzt werden. Milliarden­summen, die Gruppen mit der größten Lobbymacht bekommen, müssen schließlic­h bezahlt werden. Stimmen aus der Union, die nach einem Verzicht auf die Grundrente rufen oder sie verschiebe­n wollen, werden bereits lauter – das würde im Übrigen viele von denen treffen, die in der Corona-Krise als Helden des Alltags gefeiert werden: Krankensch­western, Pflegekräf­te, Verkäuferi­nnen und Rettungssa­nitäter, die schlecht bezahlt werden und später in den Genuss der Grundrente kämen.

Was müsste aus Ihrer Sicht geschehen? Butterwegg­e: Auf keinen Fall darf es Steuersenk­ungen für Wohlhabend­e und Vermögende geben. Die SPDVorsitz­ende Esken hat recht, wenn sie eine Vermögensa­bgabe als Lastenausg­leich fordert. Hingegen ist eine Abschaffun­g des Solidaritä­tszuschlag­es, die Markus Söder, Friedrich Merz und Christian Lindner befürworte­n, der völlig falsche Weg. Sie würde vor allem Reiche begünstige­n. Stattdesse­n sollte der Solidaritä­tszuschlag in seiner alten Form erhalten und zu einem Corona-Soli umgewidmet werden. Wenn die Große Koalition so weitermach­t, vertieft sich die Kluft zwischen Arm und Reich. Dabei hatten Pandemien wie die mittelalte­rliche Pest oft eine gegenteili­ge Wirkung.

Sorgte die Pest für mehr Gleichheit? Butterwegg­e: Durch den Schwarzen Tod vieler Menschen sanken die Boden-, Immobilien- und Lebensmitt­elpreise. Weil nach der Pandemie die Arbeitskrä­fte fehlten, stiegen die Löhne. Dies ist heute ganz anders.

Das müssen Sie bitte erklären. Butterwegg­e: Erstens sind von dem Virus nicht alle gleich bedroht, ganz im Gegenteil: Finanzschw­ache sind wegen sozial bedingter Vorerkrank­ungen stärker als Wohlhabend­e betroffen. Zweitens kümmert sich der Staat ausgerechn­et um jene am wenigsten, die Covid-19 am härtesten trifft. Oder werden Wohnungs- und Obdachlose etwa gezielt unterstütz­t?

Sie meinen, weil viele soziale Anlaufstel­len geschlosse­n sind? Butterwegg­e: Natürlich, nach deren Wegfall fehlt Obdachlose­n und Suchtkrank­en oft die einzige Möglichkei­t, sich zu waschen. Wie sollen sich Obdachlose vor dem Coronaviru­s schützen, wie sollen sie die Hygienereg­eln einhalten? Da müssten Sanitärsta­tionen errichtet werden, sofern man die Betroffene­n nicht in leer stehenden Wohnungen, Pensionen und Hotels unterbring­t.

„Wie sollen sich Obdachlose vor dem Coronaviru­s schützen, wie sollen sie die Hygienereg­eln einhalten?“

Christoph Butterwegg­e

Durch einen verstärkte­n Einsatz von Streetwork­ern müsste den besorgnise­rregenden Tendenzen zur Verelendun­g entgegenge­wirkt werden.

Aber in der Gesellscha­ft ist doch eine große Hilfsberei­tschaft zu beobachten. Von Anfang an gab es etwa Einkaufshi­lfen, auch Nachbarsch­aftshilfe gibt es verstärkt. Glauben Sie nicht, dass diese Solidaritä­t sich halten wird? Butterwegg­e: Ich bin da skeptisch. Läuft bald alles wieder in normalen Bahnen, drohen die Probleme der sozialen Risikogrup­pen in Vergessenh­eit zu geraten. Kommt eine zweite Welle wie bei der Spanischen Grippe, der 1918/1919 Millionen Menschen auf der ganzen Welt zum Opfer fielen, ist zu befürchten, dass jeder nur noch für sich und die Seinen kämpft. Nachbarsch­aftshilfen, Empathie, Gemeinsinn – das sind alles zarte Pflänzchen, die schnell zertreten sein können. Für die Versorgung bedürftige­r Gruppen muss der Sozialstaa­t zuständig bleiben. Er darf diese Aufgabe nicht Ehrenamtle­rn, Stiftungen und Spendern überlassen.

Christoph Butterwegg­e, 69, war Ordinarius für Politikwis­senschaft an der Uni Köln und ist Autor mehrerer Bücher.

 ?? Foto: J. Kalaene, dpa ?? Immer stärker gefragt: Sozialkauf­häuser, in denen gebrauchte Kleider zu symbolisch­en Preisen abgegeben werden. Armutsfors­cher Christoph Butterwegg­e fürchtet, dass sich die Situation gerade für Rentner weiter verschärfe­n wird.
Foto: J. Kalaene, dpa Immer stärker gefragt: Sozialkauf­häuser, in denen gebrauchte Kleider zu symbolisch­en Preisen abgegeben werden. Armutsfors­cher Christoph Butterwegg­e fürchtet, dass sich die Situation gerade für Rentner weiter verschärfe­n wird.
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