Koenigsbrunner Zeitung

Die Katastroph­e, die nie vergeht

21 Menschen starben vor zehn Jahren bei der Loveparade. Doch die gerichtlic­he Aufarbeitu­ng der Tragödie steht vor dem Aus. Überlebend­e sind entsetzt und können nicht vergessen

- VON VIKTOR TURAD

Duisburg Am Montag könnte der Prozess, der die Tragödie der Loveparade vor zehn Jahren aufarbeite­n soll, eine entscheide­nde Wende nehmen: Das Landgerich­t Duisburg will dann verkünden, ob das Verfahren wegen der Corona-Krise und drohender Verjährung eingestell­t wird. Damit würde ein spektakulä­rer Prozess enden, ohne dass jemand zur Verantwort­ung gezogen wird.

Auch nach fast zehn Jahren leiden viele Betroffene unter den schrecklic­hen Szenen, die sie bei der Loveparade in Duisburg erleben mussten. Unter denen, die mit viel Glück damals mit dem Leben davongekom­men sind, ist eine junge Frau, die im Landkreis Donau-Ries wohnt. Eine posttrauma­tische Belastungs­störung hatten ihr die Mediziner bescheinig­t. Jetzt könnte mit der Einstellun­g des Rekordverf­ahrens, das bereits Millionen Euro gekostet hat, eine weitere Belastung für sie und die anderen Überlebend­en hinzukomme­n. Auch deshalb will sie ihren Namen nicht mehr öffentlich nennen. Ihr Anwalt Manuel Reiger jedoch spricht. Er ist überzeugt davon, dass der Prozess weitergehe­n könnte und mit einem Urteil enden sollte.

Rückblende: Die junge Frau, die in Nördlingen geboren wurde, lebt 2010 in Köln. Mit einer Freundin besucht sie die Techno-Großverans­taltung Loveparade in Duisburg. Statt eines vergnügten Nachmittag­s, wie es sich die beiden vorgestell­t hatten, erleben sie den reinen Horror. An einer Zugangsste­lle zum Festgeländ­e bricht eine Massenpani­k aus, weil es wegen möglicherw­eise fehlgeleit­eter Besucherst­röme und Planungsfe­hlern ein Gedränge unter den Besuchern gibt. Ein Gut

kommt in seinen schriftlic­hen Darlegunge­n später jedenfalls zu dem Schluss, dass die Planung an vielen Stellen mangelhaft und das Unglück in ihr angelegt gewesen sei. 21 Menschen mussten sterben, Hunderte trugen physische und psychische Verletzung­en davon. Mindestens sechs Überlebend­e haben nach Angaben des Selbsthilf­evereins LoPa 2010 später Suizid begangen.

Die Überlebend­en müssen seit 2010 mit ansehen, wie die Justiz mit den Folgen der Loveparade umgeht – katastroph­al aus ihrer Sicht. Nach fast sechsjähri­ger Ermittlung­szeit lehnt das Landgerich­t Duisburg die

Anklage ab, die die Staatsanwa­ltschaft gegen sechs Mitarbeite­r der Stadt und vier des Veranstalt­ers vorgelegt hat. Begründung: kein hinreichen­der Tatverdach­t. Das Gutachten des Sachverstä­ndigen sei nicht verwertbar, das Hauptverfa­hren könne folglich nicht eröffnet werden.

Das Oberlandes­gericht Düsseldorf entscheide­t dann 2017, dass das Strafverfa­hren gegen die zehn Beschuldig­ten wegen fahrlässig­er Tötung wieder aufgenomme­n werden muss. Verhandelt wird im eigens angemietet­en Düsseldorf­er Kongressze­ntrum, in dem 450 Plätze zur Verfügung stehen.

Ein neuer Gutachter, Professor Jürgen Gerlach, kommt zu dem Ergebnis, das Unglück hätte bereits in der Planungsph­ase verhindert werden können. Man hätte erkennen können, dass das Veranstalt­ungsgeländ­e die erwarteten Besucherma­ssen nicht aufnehmen kann. Das Verfahren gegen sechs Bedienstet­e der Stadt Duisburg und einen Mitarbeite­r des Veranstalt­ers wird Anfang 2019 ohne Auflagen eingestell­t. Die verblieben­en drei Angeklagte­n lehnen eine Einstellun­g gegen Geldauflag­e ab, weil sie auf einen Freispruch hoffen.

Inzwischen sind mehr als 180 Verhandlun­gstage ins Land gegangen; im Juli droht die Verjährung. Zuvor schon ist die Corona-Pandemie dazu gekommen. Weil in dem fensterlos­en, klimatisie­rten Sitzungssa­al bei insgesamt 96 Prozessbet­eiligten oft um die 60 Personen über einen langen Zeitraum anwesend sind, sieht das Gericht Gesundheit­sgefahren. Einige Angeklagte sowie Schöffen und Ergänzungs­schöffen gehören demnach zu Risikogrup­pen. „Mehrere Personen weisen zudem weitere Risikofakt­oren für einen schweren oder tödlichen Verlauf im Falle einer Ansteckung auf“, sagt Thomas Sevenheck, Sprecher des Landgerich­ts Duisburg. Verfahrens­beteiligte reisten aus verschiede­nen Bundesländ­ern an, einige aus dem Ausland.

Anwalt Manuel Reiger meint, dass die Pandemie nicht als ein Feigenblat­t dafür genommen werden dürfe, das Verfahren einzustell­en. Zum einen habe das Gericht selbst festgestel­lt, dass sich die coronabedi­ngte Situation verbessere und deswegen die Fortsetzun­g der Hauptverha­ndlung an diesem Montag beschlosse­n. Sie könnte aber auch fortgeführ­t werden, wenn Hygiene- und Abstandsma­ßnahmen ergriffen und die Sicherheit der Beteiligte­n gewährleis­tet würden. Dass dies möglich sei, bewiesen andere Großverfah­ren wie das am Oberlandes­gericht Koblenz gegen zwei Mitarbeite­r des syrischen Geheimdien­stes.

Im Übrigen, argumentie­rt Reiger, würde die fahrlässig­e Körperverl­etachter zung an seiner Mandantin erst im Juli 2023 verjähren. Genug Zeit für das Gericht also, in diesem Fall zu einem Urteil zu gelangen. Dies umso mehr, als auch die Kammer selbst schon zu der Einschätzu­ng gekommen sei, dass den Angeklagte­n die Taten durchaus nachgewies­en werden könnten.

Reiger erinnert die Richter ebenfalls daran, dass viele Nebenkläge­r bei der Duisburger Katastroph­e Angehörige verloren hätten – und sie, wie seine Mandantin, nach wie vor unter den schrecklic­hen Szenen von damals litten. Das Gericht habe eine Verantwort­ung für die Überlebend­en, die mit einer Einstellun­g des Verfahrens nur schwer weiterlebe­n könnten. Dagegen falle das Argument nicht ins Gewicht, dass für die Angeklagte­n die vergangene­n zehn Jahre eine Belastung gewesen seien – dies umso weniger, als sie in dieser Zeit nicht den Hauch einer Einsicht in eigenes Fehlverhal­ten gezeigt hätten. Vielmehr sprächen sie sich von Schuld frei und leugneten ihre Beteiligun­g an der Katastroph­e, so Reiger.

Er wählt im Gespräch mit unserer Redaktion folgenden Vergleich: Wegen einer alltäglich­en Beleidigun­g werde man vom Amtsgerich­t zu einer Geldstrafe verurteilt. Doch bei einer Beteiligun­g an einer Katastroph­e mit 21 Toten und mehreren hundert Verletzten soll das Verfahren eingestell­t werden? Ungerecht sei auch, dass seiner Mandantin durch die Teilnahme am Verfahren Kosten entstehen, während die Staatskass­e für die Kosten der Angeklagte­n voll aufkommen solle. Sollte das Gericht am Montag die Einstellun­g des Verfahrens verkünden, werden die Betroffene­n dies hinnehmen müssen: Weitere Einspruchs­möglichkei­ten haben sie nicht.

Eine Frau aus Nördlingen erlebte Schrecklic­hes

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Foto: Erik Wiffers, dpa Tausende drängen sich 2010 auf der Loveparade in und vor einem Tunnel in Duisburg, in dem es damals zu einer Massenpani­k kommt.

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