Ein Kleid und ein Anzug aus jedem Haus
Am 27. April 1945 wurde mein Heimatort gegen 15.30 Uhr kampflos von den Amerikanern eingenommen und besetzt. Nach dem Einmarsch erging neben der Zwangsräumung von Anwesen und den üblichen Aufrufen zur Abgabe von Waffen, Fotoapparaten und Ferngläsern eine abendliche Ausgangssperre und die Anordnung, dass der öffentliche Verkehr auf der Straße und Schiene ab sofort eingestellt und der elektrische Strom für vier Wochen abgestellt wird.
Die Frühjahrsbestellung war größtenteils beendet und Feldarbeiten durften weiter verrichtet werden. Die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, Holz (als Heizmaterial) und den notwendigsten Gebrauchsgegenständen war in notdürftigster Weise gesichert. Die Hauptnahrung in diesen Tagen waren Milch und Kartoffeln, weil erstere wegen Abschaltung des elektrischen Stromes in der örtlichen Molkerei nicht verarbeitet werden konnte und zweitere in den Haushalten aus- reichend vorrätig waren. Die Kleintierhaltung (Bienenzucht, Geflügel, Ziegen, ein Mastschwein bei jährlicher Hausschlachtung) auch bei nicht landwirtschaftlichen Haushalten zahlte sich aus.
Interessant ist die Zusammensetzung der Einwohnerzahl zum Kriegsende: Die insgesamt 1236 Einwohner setzten sich neben den
Einheimischen anteilig zusammen aus 263 Personen als Evakuierte (inklusive 34 Schulkinder samt Lehrkraft aus Essen) sowie 122 verpflichtete Zwangsarbeiter (vornehmlich aus Polen) und 44 Kriegsgefangene aus Russland, Frankreich und Italien, was ein Drittel der Dorfbevölkerung ausmachte. Zu dem Zeitpunkt waren 181 Männer zum Kriegsdienst eingezogen worden, fünf junge Frauen leisteten Dienst als Wehrmachtshelferinnen.
Die im Ort weilenden Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen, die als Hilfskräfte bei Firmen, Haushalten und als Landwirtschaftshelfer eingesetzt waren, legten auf Befehl der Besatzer die Arbeit nieder.
Sie wurden in gesonderte Häuser untergebracht und im örtlichen Gasthaus verpflegt. Nach Kriegsende wurden sie an die nach Nationen aufgegliederten DP-Lager überführt. Vorher musste jedoch noch jedes Haus ein Frauenkleid und einen guten Anzug für deren Ausstattung abgeben.
Das für damalige Verhältnisse auf Dörfern nicht alltägliche, mit einer breiten Angebotspalette aufwartende Kaufhaus Braig, das nicht nur Lebensmittel, sondern auch für den Alltag Nötiges hatte, wurde innerhalb kürzester Zeit leergeplündert. Die ungewisse Zukunft sorgte für ein überdrehtes Beschaffungsverhalten. Daran waren alle Bevölkerungsschichten beteiligt.