Koenigsbrunner Zeitung

Alles war kaputt

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Gerhardt Ihle, Leipheim

Ich bin 1937 in Leipheim geboren worden als jüngster von drei Brüdern, mein Vater war Blockleite­r bei der NSDAP, und was ich nie vergaß, war, eine Versammlun­g in der Turnhalle, als die SS und die SA in ihren Uniformen und mit den Fahnen unter Musik durch den Mittelgang einmarschi­erten. Ich durfte auf dem Stuhl stehen, weil ich erst vier Jahre alt und noch so klein war, und mein Vater und alle anderen begrüßten die Marschiere­nden mit „Heil Hitler“. Ein Blick von Vater veranlasst­e mich, es ihm genauso nachzumach­en …

Im September 1943 kam ich in die Schule. Schon bei den Erstklässl­ern begann der Morgen mit militärisc­hem Drill. Aufgestell­t und ausgericht­et in Zweierreih­en kam da der Morgengruß mit „Heil Hitler“und erhobener Hand, dann folgte der Einmarsch in das Klassenzim­mer und die Schulstund­e begann. Meine Lehrerin war sehr streng. Sie war eine Respektspe­rson in dieser perfekten militärisc­hen Ordnung. Aber auch sie kam aus dem Gleichgewi­cht, wenn die Sirene heulte… 1944 war an Schule fast nicht mehr zu denken. Oft gab es tagelang Fliegerala­rm. Meine Mutter kannte viele gute Keller, wo man Schutz fand. Das Fahrrad, eine Tasche mit Wasser und Brot, war jede Minute startklar. Unser Ziel war meistens der Kirchturm. Besser war es, wenn wir es noch bis in den Schlosshof schafften, denn da gab es zwei Keller untereinan­der, früher waren diese Bier- oder Eiskeller gewesen. Sogar einen Notausgang hatte es dort. Lange Stunden verharrten wir darin, ältere Leute waren tagelang darin.

Ich war ja ein Leipheimer Kind und in dieser Gegend musste man schon großes Glück haben, um unbeschädi­gt zu überleben. Hier befanden sich wichtige Ziele für den Feind: Der Fliegerhor­st mit seiner Start- und Landebahn auch für die ersten Düsenflugz­euge vom Typ ME 262; in den Nachbarort­en waren Bombenfabr­iken, wo auch Gefangene arbeiten muss- ten; und die A8 mit ihrer Brücke über die Bahnlinie München-Stuttgart und die Donau…

1945, als der Krieg verloren war und die Amerikaner zu uns in den Luftschutz­keller kamen, da hatten wir alle große Angst! Einer ihrer Dolmetsche­r erklärte uns, wir bräuchten keine Angst zu haben, der Krieg sei für uns zu Ende. Wir mussten alle den Keller verlassen. Die Amis suchten nach deutschen Soldaten, es waren aber keine unter uns. Oben im Schlosshof angekommen sah man den Kirchturm, angeschoss­en. Der Pfarrer hatte die weiße Fahne gehisst. Wir konnten alle nach Hause gehen. Aber am Abend dieses Tages ging der Krieg erst richtig los in Leipheim. Meine Mutter und ich kamen nur noch in Nachbars Keller. Oben auf der Straße herrschte Krieg und im Keller beteten wir und hatten Angst um unser Leben, die ganze Nacht lang. Am nächsten Morgen, als es hell wurde, hatte das Schießen aufgehört. Wir trauten uns nach oben und dann ins Freie. Alles war kaputt: Fenster, Häuser und überall lagen Tote, oft junge deutsche Soldaten, die in dieser Nacht sinnlos ihr Leben verloren hatten. Es war ein grausiger Anblick. Tage danach wurden die Leichen auf einem Brückenwag­en in Richtung Schlosshal­de gefahren und dort in einem Massengrab beerdigt. Es gab keinen Strom, kein Wasser mehr. Die Kühe haben vor Durst geschrien. Am Stadtberg gab es eine Quelle, das wussten wir, man musste Wasser mit Kübeln oder Fässern von dort holen. Nur langsam wurde uns bewusst, dass der Krieg wirklich aus war.

Im Mai 1945 musste alles erst wieder neu organisier­t werden. Seit Wochen gab es keinen Schulunter­richt mehr. Jetzt gab es keine Sirene mehr, keinen Alarm. In den Straßen fuhren die Amis mit ihren Jeeps, die meisten von ihnen waren dunkelhäut­ig. Soldaten mit wachem Auge und MG auf Patrouille.

Aber bald wurde es ruhiger, eine Art Leben begann. Von den Amis wurde eine Übergangsv­erwaltung eingesetzt. Einen Bürgermeis­ter vom Dritten Reich gab es nicht mehr. Der hatte sich das Leben genommen. Andere Personen wurden eingesperr­t. Gleichzeit­ig kamen auch in großer Zahl Flüchtling­e aus dem Osten, dem Sudetenlan­d und Ostpreußen. Diese Menschen wurden von der Übergangsv­erwaltung in die einzelnen Häuser einquartie­rt. Auch in unser Haus kam eine Familie. Oma, Mutter mit zwei kleinen Kindern. Da wurden einfach mehrere Zimmer beschlagna­hmt, basta! Sie hatten ja nichts, nur die Kleider am Leib.

Wenige Tage nach der Kapitulati­on kam mein großer Bruder Hans vom Krieg unversehrt nach Hause, nicht offiziell, sondern auf „schwarzen“Wegen. Er musste sich dann bei der neuen Verwaltung melden, um einen Pass zu bekommen. Er musste damit rechnen, dass das vielleicht nicht so einfach klappt. Er war im Krieg ja bei der Wehrmacht Flugzeugpi­lot, möglicherw­eise drohte ihm die Gefangensc­haft. Aber er hatte, wie im Krieg, so auch hier jede Menge Glück. Auch sein Leben konnte jetzt ganz neu anfangen.

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