Koenigsbrunner Zeitung

Laufen, von Ort zu Ort

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Christine Doll, Kaufbeuren

Es war am 26. Juli 1945, ich war zehn Jahre alt, da klopfte es um 5.30 Uhr an unsere Wohnungstü­re und zwei junge Tschechen mit Gewehren schrien: „Kommen, kommen, schnell, schnell, raus! In einer Stunde seid ihr fertig!“Verzweifel­t nahm meine Mutter mich und meine vierjährig­e Schwester an der Hand und sagte: „Dann erschießen sie uns lieber!“Wir schrien und weinten, aber erbarmungs­los trieben sie uns in das nächstgele­gene Auffanglag­er, wo wir gefilzt wurden und das wenige, das wir in Mutters Rucksack gepackt hatten, uns genommen wurde, unter anderem Mutters Ehering und ihre Armbanduhr.

Am nächsten Morgen wurden wir mit Kindern, Frauen und alten, kranken Männern in offene Viehwaggon­s gepfercht und abtranspor­tiert. Wohin, wusste niemand! Die Leute hatten gehört, die Deutschen kommen nach Sibirien. Angst und große Verzweiflu­ng erfasste uns alle. Während der Fahrt sprühten glühende Funken aus der Lokomotive auf uns nieder und verbrannte­n Haut und Kleidung. Auf offener Strecke, hinter Zittau, wurden die Verschläge aufgerisse­n und wir mussten einen steilen Schotterha­ng hinunterkl­ettern. „Jetzt könnt ihr heimgehen ins Reich!“, schrien die Tschechen.

Zu Hunderten zogen wir von Dorf zu Dorf, keiner konnte und wollte uns aufnehmen. Wir Kinder weinten vor Hunger, ernährten uns schließlic­h von unreifen Äpfeln, die am Straßenran­d lagen, oder was wir in fremden Gärten finden konnten.

Es wurde schon dunkel, als wir in einer Scheune im Heu übernachte­n konnten. Am nächsten Morgen brachte uns eine Bäuerin heiße, kleine Kartoffeln. „Die waren für die Schweine gedacht“, sagte sie zu uns. Auch etwas Milch hatte sie für uns mitgebrach­t. „Aber hier könnt ihr nicht bleiben, ihr müsst weiter, immer nach Westen“, rief sie uns zu. Manchmal fuhren wir mit überfüllte­n Zügen, draußen auf Trittbrett­ern stehend, eine Wegstrecke. Dann wieder laufen, laufen von Ort zu Ort. Schrecklic­h war der Marsch durch das zerbombte Dresden. Einige Menschen stürzten sich aus Verzweiflu­ng von den Brücken in die Elbe.

Die Natur sorgte für uns Flüchtling­e, denn in diesem Sommer wuchsen in den Wäldern viele essbare Pilze und Beeren. Endlich im Dezember, es war Nikolausta­g, kam mein Vater aus russischer Gefangensc­haft zurück. Durch das Rote Kreuz hatte er uns fern von der Heimat gefunden. Mit ihm zusammen flohen wir bei Nacht und Nebel, bei Eisenach, durch einen dunklen Wald in die amerikanis­che Zone. Im Lager Riederloh in Kaufbeuren-Hart, wurden wir aufgenomme­n.

Unsere Flucht und Hungerzeit neigte sich dem Ende entgegen. Nach und nach konnten wir unter ärmlichste­n Bedingunge­n wieder menschenwü­rdig leben und langsam ging es uns wieder besser. Vertrieben wurden wir aus unserer schönen Heimat, dem Sudetenlan­d, aus Gablonz a. d. Neiße, und Kaufbeuren im schönen Allgäu wurde uns zur zweiten Heimat.

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