Koenigsbrunner Zeitung

Kann man von Deutschen Aufarbeitu­ng lernen?

75 Jahre nach Kriegsende vergleicht die amerikanis­ch-jüdische Philosophi­n Susan Neiman die Erinnerung an die NS-Vergangenh­eit mit dem Erbe des Bürgerkrie­gs in den USA. Und kommt zu einem überrasche­nden Schluss

- VON HARALD LOCH

Niederlage oder Befreiung – wie hat sich die Sicht der Deutschen auf den 8. Mai 1945 im Laufe der Jahrzehnte verändert? Und wie hat sich – Niederlage oder Befreiung – die Sicht der Menschen in den amerikanis­chen Südstaaten auf den Sieg des Nordens im Bürgerkrie­g in seither 175 Jahren gewandelt? In Deutschlan­d ging es um die Beendigung des mörderisch­en Hitlerregi­mes. In den Vereinigte­n Staaten um die Abschaffun­g der Sklaverei im Süden. Ein „unmögliche­r“Vergleich zwischen diesen beiden Arten der Aufbereitu­ng der jeweiligen Vergangenh­eit?

Einen solchen Vergleich stellt jedenfalls Susan Neiman in ihrem Buch „Von den Deutschen lernen“an. Die Philosophi­n ist Jüdin, geboren 1955 in Atlanta, Georgia, einem der Südstaaten der USA. Sie war Professori­n in Yale und Tel Aviv. Seit 20 Jahren leitet sie das Einstein Forum in Potsdam und wohnt in Berlin. In vielen Veranstalt­ungen, an denen sie auf dem Podium oder im Publikum teilnimmt, tritt sie als temperamen­tvolle, scharf formuliere­nde Diskutanti­n auf, die sich überall dort einmischt, wo es um Vernunft, Gerechtigk­eit, um Gleichheit der Menschen oder um Solidaritä­t geht.

Ihr aktuelles Buch mit dem Untertitel „Wie Gesellscha­ften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen“blickt auf Deutschlan­d, bis 1989 auf beide deutsche Staaten, und auf Mississipp­i, den ärmsten und rückständi­gsten aller Staaten der USA mit einem Anteil von 40 Prozent Afroamerik­anern an der

Ihr Buch ist eine zeitgeschi­chtliche Untersuchu­ng des Umgangs mit dem Holocaust in Deutschlan­d und mit dem Rassismus in Amerika.

Die Entwicklun­g in Deutschlan­d beschreibt Neiman als unterschie­dlich in Ost und West. Im Westen empfanden sich die Menschen anfangs als Opfer des Krieges, der Niederlage, der Besatzung. Nur wenige Stimmen verwiesen auf die Ursachen dieser Verluste, die Naziherrsc­haft und die eigene Schuld. Viele Nazitäter kamen wieder zu Amt und Würden, wenige wurden bestraft, der Opfer des Naziterror­s wurde nicht gedacht. Diese Phase des Beschweige­ns des Völkermord­es dauerte etwa 20 Jahre, bis die Kinder der Tätergener­ation nach dem Schuldante­il ihrer Eltern fragten. Danach dauerte es weitere 20 Jahre, bis Bundespräs­ident Richard von Weizsäcker mit einer Selbstvers­tändlichke­it überrascht­e, als er vom 8. Mai als dem „Tag der Befreiung“sprach. Eine Sicht, die allmählich zum Kern des gesellscha­ftlichen Bewusstsei­ns wurde.

In der DDR ist der 8. Mai immer als „Tag der Befreiung“bezeichnet und begangen worden. Mit messbaren Zahlen wie der Anzahl der verurteilt­en Nazis, der Gedenkstät­ten, mit Schulbüche­rn und vor allem mit zahlreiche­n Interviews mit Dissidente­n, also Kritikern der DDR, belegt Neiman, dass der „verordnete“Antifaschi­smus nicht nur Staatsrais­on der DDR im Kalten Krieg, sondern in der Bevölkerun­g fest verankerte­s Bewusstsei­n war. Die Autorin beruft sich auf Aussagen von Menschen wie dem Biologen Jens Reich, dem Pfarrer Friedrich

Schorlemme­r oder dem Autor Ingo Schulze sowie dem langjährig­en Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepu­blik in Ostberlin, Otto Bräutigam.

Im vereinigte­n Deutschlan­d findet Susan Neiman eine intensive Fortsetzun­g der unterschie­dlich begonnenen Vergangenh­eitsaufber­eitung in einer Reihe von Erinnerung­sstätten: das Haus „Gedenkstät­te der Wannseekon­ferenz“, die Rekonstruk­tion der Gestapozel­len in der „Topographi­e des Terrors“oder auch das weniger bekannte Denkmal in der Rosenstraß­e unweit des Alexanderp­latzes, das dem erfolgreic­hen Widerstand der nichtjüdis­chen

Frauen gegen die Inhaftieru­ng ihrer jüdischen Männer im Jahr 1943 gewidmet ist. Die zehntausen­de von Stolperste­inen, die Namen und

Leben ermordeter Juden vor dem Vergessen bewahren, rechnet sie zu den beispielha­ften Ergebnisse­n deutscher Vergangenh­eitsaufber­eitung. Trotz vieler Versäumnis­se, ist Neiman überzeugt, befinde sich Deutschlan­d nach dem Krieg und trotz der Irritation­en durch die AfD auf dem richtigen Weg.

Zur Vorbereitu­ng ihres Buches verbrachte sie vor drei Jahren ein Sabbatical in Mississipp­i und nutzte es für eine bemerkensw­erte Feldstudie, die von ihrer tief empfundene­n politische­n Berufung der Philosophi­e zeugt. Der 1817 gegründete 20. Staat der USA wurde aufgrund seines Klimas und der billigen ArbeitsBev­ölkerung. kräfte der Sklaven der größte Produzent von Baumwolle, des wichtigste­n Exportarti­kels der USA. Als die in ihrem 13. Verfassung­szusatz die Sklaverei abschaffte­n, trat der Bundesstaa­t Mississipp­i aus den Vereinigte­n Staaten aus und schloss sich mit anderen Südstaaten zur Konföderat­ion zusammen. Gegen diese Abspaltung zog die Union in den Bürgerkrie­g, den der Süden nach verheerend­en Kämpfen verlor.

Insgesamt beklagten die Vereinigte­n Staaten in diesem Krieg mehr Gefallene als in beiden Weltkriege­n und dem Vietnamkri­eg zusammen. Nach der Niederlage besetzten Unionstrup­pen noch zehn Jahre lang die Südstaaten, die umstritten­e „Reconstruc­tion“, um die Befreiung der Sklaven durchzuset­zen. Neiman erzählt davon – für das deutsche Publikum dürfte das meiste neu sein –, dass die „Befreiung“nur auf dem Papier erfolgte. Die Plantagenb­esitzer beherrscht­en nach wie vor das Land und das Bewusstsei­n in der Gesellscha­ft. Das gelte bis heute und setze sich in der Politik des gegenwärti­gen Präsidente­n der USA bundesweit fort.

Der von der Überlegenh­eit der weißen „race“geleitete Rassismus habe sich bis weit in das 20. Jahrhunder­t fortgesetz­t. An zwei Beispielen belegt Neiman ihre Feststellu­ng: James Meredith, Sohn eines Choctaw und einer Afroamerik­anerin, wurde 1962 als erster farbiger Student an der Mississipp­i University in Oxford eingeschri­eben. Als der Gouverneur das zu verhindern suchte, schickte die Bundesregi­erung an die 30 000 Soldaten, um das Recht von Meredith durchzuset­zen. Neiman interviewt­e Mitarbeite­r der

Universitä­t, an der sie selbst während ihres Sabbatical­s unterricht­ete, und zeichnet die bis in die Gegenwart andauernde­n Kontrovers­en um die Deutung der Geschichte nach, die keineswegs aufgearbei­tet ist.

Das Gleiche gilt für die Erinnerung an Emmett Till. Der ist 1955 als 14-Jähriger in Sumner, Mississipp­i, von zwei Weißen grundlos misshandel­t und gelyncht worden. Die Mutter des Kindes ließ, um die Trauernden aufzurütte­ln, das entsetzlic­h entstellte Gesicht ihres Sohnes erkennen. Die beiden Täter wurden von einer aus Weißen bestehende­n Jury freigespro­chen, gestanden aber wenig später gegenüber einer Illustrier­ten die Tat. Neiman beleuchtet den Mord und den Freispruch in Interviews aus unterschie­dlicher Perspektiv­e und kommt zu einem vernichten­den Ergebnis für die Aufbereitu­ng.

Vor 20 Jahren ist Susan Neiman mit ihren drei Kindern aus Israel nach Berlin gezogen, weil sie überzeugt ist, hier mit ihrer Familie leben zu können. Sie zitiert ein Wort des Südstaaten­autors William Faulkner: „Die Vergangenh­eit ist niemals tot. Sie ist nicht einmal vergangen“, und fasst den Unterschie­d in zwei Fakten zusammen: In Deutschlan­d gibt es keine Denkmäler für Naziverbre­cher. In Mississipp­i aber gibt es immer noch sehr viele Monumente für Protagonis­ten der Rassentren­nung und Apologeten der Sklaverei.

» Susan Neiman: Von den Deutschen lernen. Wie Gesellscha­ften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können. Aus dem Englischen von Christiana Goldmann. Hanser, 575 S., 28 ¤

 ?? Foto: Christophe Gateau, dpa ?? Das Holocaust-Mahnmal in Berlin zählt zu den Marksteine­n deutscher Auseinande­rsetzung mit der NS-Geschichte.
Foto: Christophe Gateau, dpa Das Holocaust-Mahnmal in Berlin zählt zu den Marksteine­n deutscher Auseinande­rsetzung mit der NS-Geschichte.
 ??  ?? Susan Neiman
Susan Neiman

Newspapers in German

Newspapers from Germany