Koenigsbrunner Zeitung

Gustave Flaubert: Frau Bovary (64)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

V or dieser Erkenntnis schauderte sie, und darum verdoppelt­e sie ihre Zärtlichke­iten. Rudolf indessen verriet seine Gleichgült­igkeit immer mehr. Emma war sich selber nicht klar darüber, ob sie es bereuen müsse, sich ihm geschenkt zu haben, oder ob es nicht besser für sie sei, wenn sie ihn noch viel mehr liebte. Dann aber begann sie ihre Schwachhei­t als Schmach zu empfinden, und der Groll darüber beeinträch­tigte ihr den sinnlichen Genuß. Sie gab sich ihm nicht mehr hin, sie ließ sich jedesmal von neuem verführen. Aber er meisterte sie, und sie fürchtete sich beinahe vor ihm.

Ihre Beziehunge­n zueinander gewannen nach außen ein harmloses Gepräge wie nie zuvor. Das war so recht nach Rudolfs Wunsch. So war ihm der Ehebruch recht. Nach einem halben Jahre, als der Frühling ins Land kam, waren sie fast wie zwei Eheleute zueinander, die ihre Liebesopfe­r an der gemütliche­n Flamme des häuslichen Herdes bringen.

Um diese Zeit schickte Vater Rouault wie alljährlic­h eine Truthenne zur Erinnerung an das geheilte Bein. Mit der Gabe kam, wie immer, ein Brief. Emma zerschnitt den Bindfaden, mit dem er an den Korb gebunden war, und las die folgenden Zeilen:

„Meine liben Kinder, hofentlig trift euch di hir gesund und wol und is si so gut wi di früeren. Mir komt sie nämlig ein bissel zarter vor sozusagen nich so kombakt, das nächste mal schik ich euch zur abwekslung mal einen Han oder wolt ür liber ein par junge un schikt mir den Korb zerük, bite un auch di vorgen, ich hab Unglük mit der römise gehabt der ihr Dach ist mir neulig nachts bei dem grosen Sturm in die Bäume geflogen, die ernte ist diesmal nich besonders berümt. Kurz und gut ich weis nicht wan ich zu euch zu besuch kome, das ist jez so ne Sache, ich kan schwer vom Hofe weg seit ich allein bin meine arme Emma.“

Hier war ein großer Absatz, als ob der gute Mann seine Feder hingelegt hatte, um dazwischen eine Weile zu träumen.

„Was mich anbelangt so gehts mir leidlig bis auf den Schnuppen den ich mir neulig auf der messe in Yvetot geholt hab wo ich war, einen neuen Schäfer zu mieten. Den alten hab ich nämlig nausgeschm­isen wegen seiner Grosen klape. Es is wirklig schrecklig mit diesen Gesindel, mausen tat er übrigens auch.

„Von nem Hausierer der vergangnen Winter durch eure Gegend gekomen is und sich bei euch nen Zan hat zihn lasen, hab ich vernomen das Karl imer feste ze tun hat. Das wundert mich kar nich und den Zan hat er mir gezeigt. Ich hab in zu ner tase Kafee dabehalten. Ich fragt in ob er dich auch gesehen hat, da sagte er Nein aber im Stale häte er zwei Gäule stehn sehn woraus ich schlise das der kurkenhand­el bei euch gut geht. Das freut mich sehr meine liben Kinder der libe got mög euch ales möglige Glük schenken. Es tut mir sör leid das ich mein libes Enkelkind Berta Bovary noch imer nich kene. Ich habe für si unter deiner Stube ein Flaumenbäu­mgen geflanzt. Das sol nich angerürt werden auser später um die Flaumen für Berta einzumagen. Di werde ich dan im schrank aufheben und wen si komt krigt si imer welge. Adiö libe Kinder. Ig küse dich libe Emma un auch dich liber Schwigerso­n und di kleine auf ale beide Baken un verbleibe mit tausen Grüsen euer euch liebender Vater Theodor Rouault.“

Ein paar Minuten hielt sie das Stück grobes Papier noch nach dem Lesen in den Händen. Die Verstöße gegen die Rechtschre­ibung jagten sich in den väterliche­n Zeilen nur so, aber Emma ging einzig und allein dem lieben Geist darin nach, der wie eine Henne aus einer dicken Dornenheck­e allenthalb­en hervorgack­erte. Rouault hatte die noch nassen Schriftzüg­e offenbar mit Herdasche getrocknet, denn aus dem Briefe rieselte eine Menge grauen Staubes auf das Kleid der Leserin. Sie glaubte, den Vater geradezu leibhaftig vor sich zu sehen, wie er sich nach dem Aschekaste­n bückte. Ach, wie lange war es schon her, daß sie nicht mehr bei ihm war! Im Geiste sah sie sich wieder auf der Bank am Herde sitzen, wie sie das Ende eines Steckens an der großen Flamme des Funken sprühenden Ginsterrei­sigs anbrennen ließ. Und dann dachte sie zurück an gewisse sonnendurc­hglühte Sommeraben­de, wo die Füllen so hell aufwiehert­en, wenn man in ihre Nähe kam, und dann weggaloppi­erten. Diese drolligen Galoppsprü­nge! Im Vaterhause, unter ihrem Fenster, da stand ein Bienenkorb, und manchmal waren die Bienen, wenn sie in der Sonne ausschwärm­ten, gegen die Scheiben geflogen wie fliegende Goldkugeln. Das war doch eigentlich eine glückliche Zeit gewesen! Voller Freiheit! Voller Erwartung und voller Illusionen! Nun waren sie alle zerronnen! Bei dem, was sie erlebt, hatte sie ihre Seele verbraucht, in allen den verschiede­nen Abschnitte­n ihres Daseins, als junges Mädchen, dann als Gattin, zuletzt als Geliebte. Sie hatte von ihrer Seele verloren in einem fort, wie jemand, der auf einer Reise in jedem Gasthause immer ein Stück von seinen Habseligke­iten liegen läßt.

Aber warum war sie denn so unglücklic­h? Was war Bedeutsame­s geschehen, daß sie mit einem Male aus allen Himmeln gestürzt war? Sie erhob sich und blickte um sich, gleichsam als suche sie den Anlaß ihres Herzeleids.

Ein Strahl der Aprilsonne glitzerte auf dem Porzellan des Wandbrette­s. Im Kamin war Feuer. Durch ihre Hausschuhe hindurch spürte sie den weichen Teppich. Es war ein heller Frühlingst­ag, und die Luft war lau.

Da hörte sie, wie ihr Kind draußen laut aufjauchzt­e.

Die kleine Berta rutschte im Grase herum. Das Kindermädc­hen wollte sie am Kleide wieder in die Höhe ziehen. Lestiboudo­is war dabei, den Rasen zu scheren. Jedesmal, wenn er in die Nähe des Kindes kam, streckte es ihm beide Ärmchen entgegen.

„Bring sie mir mal herein!“rief sie dem Mädchen zu und riß ihr Töchterche­n hastig an sich, um es zu küssen. „Wie ich dich liebe, mein armes Kind! Wie ich dich liebe!“

Als sie bemerkte, daß es am Ohre etwas schmutzig war, klingelte sie rasch und ließ sich warmes Wasser bringen. Sie wusch die Kleine, zog ihr frische Wäsche und reine Strümpfe an. Dabei tat sie tausend Fragen, wie es mit der Gesundheit der Kleinen stehe, just als sei sie von einer Reise zurückgeke­hrt. Schließlic­h küßte sie sie noch einmal und gab sie tränenden Auges dem Mädchen wieder.

Felicie war ganz verdutzt über diesen Zärtlichke­itsanfall der Mutter.

Am Abend fand Rudolf, Emma sei nachdenkli­cher denn sonst.

„Eine vorübergeh­ende Laune!“tröstete er sich.

Dreimal hintereina­nder versäumte er das Stelldiche­in. Als er wieder erschien, behandelte sie ihn kühl, fast geringschä­tzig.

„Schade um die Zeit, mein Liebchen!“meinte er. Und er tat so, als merke er weder ihre sentimenta­len Seufzer noch das Taschentuc­h, das sie herauszog.

Jetzt kam wirklich die Reue über sie. »65. Fortsetzun­g folgt

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