Koenigsbrunner Zeitung

Eine Katastroph­e ohne Schuldige

Zehn Jahre nach der Loveparade-Tragödie stellt das Gericht das Verfahren ein. Es habe keinen „Bösewicht“gegeben, aber Planungsfe­hler, schlechte Kommunikat­ion und fatale Entscheidu­ngen

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Düsseldorf Trichterwi­rkung, Verflechtu­ng von Personenst­römen, Magnetpunk­te, Menschenve­rdichtung: Richter Mario Plein lässt stundenlan­g schematisc­he Zeichnunge­n und Fotos einblenden, bevor er am Montag einen entscheide­nden Satz sagt: „Aus unserer Sicht ist die Katastroph­e aufgeklärt.“Dennoch endet der Loveparade-Prozess nach zweieinhal­b Jahren und 184 Verhandlun­gstagen ohne Urteil. Eines der aufwendigs­ten Strafverfa­hren der Nachkriegs­zeit wird rechtskräf­tig, also unanfechtb­ar eingestell­t.

Das ist erklärungs­bedürftig, deshalb wendet sich Richter Plein an eine Angehörige, deren Sohn ums Leben kam und die nun vor ihm sitzt – und bittet um Verständni­s: „Ich kann mir vorstellen, dass der heutige Tag für Sie schwer ist, dass Sie wütend und enttäuscht sind.“

Zweifellos seien vor und während der Loveparade im Juli 2010 Fehler gemacht worden. 21 junge Menschen kamen an jenem Tag ums Leben, mehr als 650 wurden verletzt. Einige leiden bis heute unter den Folgen. Aber, sagt Plein: „Den großen Bösewicht haben wir nicht gefunden. Es war eine Katastroph­e ohne Bösewicht.“Leute hätten Fehler gemacht, obwohl sie ihr Bestes gegeben hätten, ja sogar ihre eigenen Kinder zum Techno-Spektakel ließen. „Ich hoffe sehr, dass Sie im Laufe der Zeit damit leben können und Ruhe finden“, sagt Plein zu der Hinterblie­benen.

Die Einstellun­g des Prozesses will der Richter nicht als Schlappe der Justiz oder als Kapitulati­on vor der drohenden Verjährung, die Ende Juli eingetrete­n wäre, dem Coronaviru­s oder der Komplexitä­t des Geschehens verstanden wissen. Denn: Die noch verblieben­en drei Angeklagte­n treffe nach jetziger Beweislage nur geringe Schuld. Die drei Männer – 43, 60 und 67 Jahre alt – waren damals alle in verantwort­licher Position beim Loveparade­Veranstalt­er Lopavent beschäftig­t. Die Verfahren gegen sechs Mitarbeite­r der Stadt Duisburg und einen weiteren Lopavent-Mitarbeite­r wurden bereits vor einem Jahr eingestell­t, ebenfalls ohne Auflagen.

Eine mögliche individuel­le Schuld der Angeklagte­n an der Katastroph­e sei als gering anzusehen, betont das Gericht. Obwohl weniger Menschen kamen als die erwarteten 485000, sei es zu der Katastroph­e gekommen, weil das Konzept versagt habe. „Der Tunnel war dabei kein Problem“, sagt der Richter zur Überraschu­ng vieler: Neuralgisc­he Punkte seien die zu kleinen vorgeschal­teten Schleusen gewesen und der zu enge sogenannte Rampenkopf, von dem der Zufluss der Menschen direkt auf die Musik-Trucks zugeführt wurde. „Zäune führten zu zusätzlich­en, nicht vorgesehen­en Engstellen“, sagt Plein. „Es gab keine ausreichen­den Flächen für die Abwicklung der Personenst­röme.“Bereits kurz nach 14 Uhr sei es zu ersten Auffälligk­eiten gekommen.

Kommunikat­ionsproble­me und „unpassende Anordnunge­n der Polizei“hätten die Situation verschärft: Krisengesp­räche von Polizei und Feuerwehr seien ohne die Veranstalt­erin geführt worden. Der Funkverkeh­r der Polizei sei erheblich gestört gewesen. Die Steuerung der Personenst­röme sei unkoordini­ert gewesen. Die Polizei sei die zugesagte Unterstütz­ung bei der Schließung der überlastet­en Zugänge schuldig geblieben. Polizeiket­ten hätten das Schlimmste verhindern sollen, seien aber zum Teil kontraprod­uktiv gewesen und hätten letztlich „alle dem Druck nicht standgehal­ten“.

Im Bereich der Rampe Ost hätten sich zu- und abfließend­e Menschenst­röme schließlic­h gegenseiti­g blockiert. Die Folge: Stillstand. Um 16.30 Uhr sei die Stimmung gekippt und eine lebensbedr­ohliche Lage mit Wellenbewe­gungen entstanden. Nach Ansicht des Gerichts war es wiederum eine Polizeiano­rdnung, die dann die Katastroph­e unumkehrba­r machte: Zaunelemen­te um 16.31 Uhr im überlastet­en Zugang West zu entfernen, was dazu geführt habe, dass die Menschenma­ssen unkontroll­iert in den Tunnel geströmt seien: „Ab da war alles zu spät. Das erklärt die Katastroph­e.“

Letztlich habe aber keiner der Verantwort­lichen grob fahrlässig gehandelt, betont Richter Plein: „Große Sorglosigk­eit war bei ihnen nicht ansatzweis­e erkennbar.“Dies sei schwer zu begreifen: Dass es zur Katastroph­e kam, obwohl die Angeklagte­n sich gewissenha­ft, sorgfältig und profession­ell verhalten hätten. Aber es sei eine Katastroph­e mit vielen Ursachen gewesen. Und es hätten auch andere Beteiligte als nur die Angeklagte­n Fehler gemacht.

„Dies ist ein schlechter Tag für die Justiz“, kritisiert­e Nebenklage­Anwalt Julius Reiter den Einstellun­gsbeschlus­s. „Die Art und Weise der Beendigung unter Abwesenhei­t des Sachverstä­ndigen, den wir nicht befragen konnten, ist ein unwürdiges Ende des Prozesses.“Sein Kollege Rainer Dietz sprach von einem „Desaster“.

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Foto: Bernd Thissen, dpa Holzkreuze und Pflanzen erinnern an die 21 Menschen, die bei der Loveparade 2010 ums Leben kamen.

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